Spirit of Styria

PLANEN MIT Fingerspitzengefühl

Architektin Nina Kuess hat sich mit Zu- und Umbauten von alten Häusern in der Weststeiermark einen Namen gemacht. Mit dem Stadtbootshaus am Marburger Kai hat sie den Grazern wieder Zugang zur Mur eröffnet.

Auf Anhieb findet man das Bootshaus am Marburger Kai nicht. Es liegt bewusst platziert unter dem Straßenniveau und ist in die Uferböschung eingebettet. Ein Haus im Verborgenen also, das Sportlern aber auch Spaziergängern Zugang zur Mur verschafft. „In der alten Hütte der Murwärter hatten die Kajak- und Kanufahrer weder Strom noch fließendes Wasser“, berichtet Nina Kuess. „Die Stadt hat deshalb einen geladenen Wettbewerb für einen Neubau initiiert, den wir 2019 gewinnen konnten.“ Überzeugt hat das junge Büro aus Lieboch mit einem Konzept, das Wassersportlern ein zeitgemäßes Bootshaus und Spaziergängern einen Platz zum Ausruhen am Fluss bietet. Damit sich beides auf dem schmalen Ufer realisieren ließ, hat Kuess das Bootshaus in die Uferböschung bis an die Gehsteigkante hineingebaut. Um das nur fünf Meter breite Haus luftiger zu machen, wurde die zur Mur hin ausgerichtete Front mit Schiebeelementen gestaltet. Zum Fluss hin entstanden öffentlich zugängliche Sitz- und Liegestufen. „Wir wollten so viel Raum wie möglich für die Öffentlichkeit schaffen“, sagt Kuess. „Der Ort ist nämlich etwas ganz Besonderes: Obwohl man mitten in der Stadt ist, hört man hier keinen Verkehrslärm, sondern nur die Natur und Mur.“ Am Dach wurde eine Terrasse mit großen Pflanztrögen als zusätzlichen Ort zum Verweilen eingerichtet. Kuess und ihr Team planen gerade 200 Meter weiter südlich, bei der Radetzkybrücke, eine neue Terrasse am Fluss. Die Grazer sollen auch hier ihrem Fluss wieder näherkommen können.

VORHER-NACHHER: Stadtbootshaus, Blick vom gegenüberliegenden Murufer

Dabei liegt der Schwerpunkt von Nina Kuess und ihrem achtköpfigen Team eigentlich im ländlichen Raum, wo sie vor allem Zu- und Umbauten von alten Gebäuden realisieren. Ein Beispiel für das besondere Gespür der Architektin für den Umgang mit altem Bestand ist ein Stadel in Lieboch. In dem landwirtschaftlichen Gebäude entstanden zwei Wohnungen. In das Dach wurde eine Terrasse hineingeschnitten, wodurch die traditionellen Ziegelfenster an der Fassade erhalten werden konnten. Im übrigen Teil der Scheune steht nach wie vor der Traktor des Bauherrn.

„All unsere Bauaufgaben sind einzigartig: Wir schaffen Räume, die sich ortsverbunden einbetten und den Charme alter Strukturen mit moderner Architektur vereinen.“

NINA KUESS
KUESS ARCHITEKTUR ZT

„Wir arbeiten gerne an Bestandsobjekten“, sagt Kuess. „Es ist ökologisch sinnvoll, es hat aber auch mit Wertschätzung von Gebäuden zu tun, die seit Jahrzehnten, manchmal auch seit Jahrhunderten dort gestanden sind.“ Für das Arbeiten an und mit alter Bausubstanz ist Fingerspitzengefühl gefragt, aber auch viel technisches Know-how. „Wir schauen uns am Beginn eines Projekts immer genau an, wo die Stärken eines Gebäudes liegen, was erhalten werden kann und was wir ersetzen müssen.“ Beim Umbau eines traditionellen Gebäudeensembles in der Weststeiermark fand Kuess einen alten Troadkasten vor, den sie erhalten wollte. Dieser wurde mit einem Spezialkran angehoben und im Ganzen transportiert, damit den Verzinkungen der Holzwände nichts passiert. Der Troadkasten wurde mit all seiner traditionellen Handwerkskunst erhalten und neu interpretiert in einen Wohnraum integriert. „Früher hat man diese Getreidespeicher einfach verheizt, wenn sie im Weg gewesen sind“, ergänzt die Architektin. Wenn ein alter Bauteil auch mit bestem Willen nicht mehr zu retten ist, entwickeln Kuess und ihr Team eine Lösung, die die alte Ensemblestruktur erhält. „Wir haben auf dem Areal einer baufälligen Scheune einen Zubau zum Wohnhaus realisiert und so die alte Hofsituation erhalten“, erklärt sie.

VORHER-NACHHER: My Home is my Stadel

Denn bei Adaptierungen alter Häuser und Gebäudeensembles geht es Kuess immer auch um die Erhaltung und Vermittlung der Geschichte so wie traditioneller Handwerkskunst.
„All unsere Bauaufgaben sind einzigartig. Wir schaffen Räume die sich ortsverbunden einbetten und den Charme alter Strukturen mit moderner Architektur vereinen.“

Realisieren lässt sich das vor allem, wenn man auch mit für die Region typischem Material arbeitet. Für die Stainzer Gegend bedeutet dies, mit dem Stainzer Gneis zu arbeiten. „Dieser Stein enthält Eisen, das abhängig vom Witterungseinfluss unterschiedlich stark rostet und dem Stein seine typische Farbe gibt“, erklärt Kuess. Ein anderes, traditionelles Baumaterial, das Kuess gerne verwendet, ist Lehm, den sie in Innenräumen als Verputz einsetzt. „Lehm ist feuchtigkeitsregulierend und neutralisiert Gerüche. Das ist besonders bei offenen Küchen ein Vorteil.“

Mindestens genauso wichtig wie das Material ist aber auch die Chemie, und zwar die zwischen Planer und Auftraggeber. „Als Architekten bearbeiten wir die zukünftige Lebenswelt unserer Bauherrnschaft. Wir müssen die Bedürfnisse genau kennen, um gemeinsam nachhaltig planen und bauen zu können, sagt sie.

Die Umgangsweise und der Austausch muss aber bei so sensiblen Bauaufgaben auch zwischen dem Architekten und den ausführenden Firmen bzw. HandwerkerInnen stimmen. Gerade dieses Verhältnis ist, wie viele Beteiligte wissen, nicht immer friktionsfrei. Stichwort: „So haben wir das noch nie gemacht.“ Kuess hat mit ihren Handwerkern einen guten Modus operandi gefunden. Ganz einfach, indem sie das Handwerk, beispielsweise im Holz bau, schätzt und respektiert und somit anhand Ihrer Architektur ablesbar wird.

Diese Wertschätzung lässt sie auch ihren Handwerkern zukommen, zum Beispiel, indem sie nach Fertigstellung eines Projekts auch deren Familien zum Fest einlädt: „Ich möchte, dass alle sehen, was die HandwerkerInnen geleistet haben“, betont Kuess. Denn auch wenn sie inzwischen ein Team von Spezialisten um sich versammelt hat, sorgt sich die Architektin um die Zukunft des Handwerks. „Wenn ein Tischler keine Lehrlinge bekommt, dann geht nicht nur ein Betrieb verloren, sondern auch Wissen und wertvolle Erfahrung.“
Dem möchte Kuess mit ihrem eindrucksvollen Gespür für zeitgemäße Adaptierung von Bestandsgebäuden entgegenwirken, indem sie Tradition mit Moderne verbindet und Bauaufgaben jeglichen Umfangs attraktiv gestaltet.
Dass der Nutzung bestehender Gebäude und damit dem sparsamen Umgang mit Ressourcen die Zukunft gehört, dürfte unumstritten sein.

VORHER-NACHHER: Schneebauer Geschwister, St. Stefan ob Stainz

VORHER-NACHHER: Weinstöckl Hochgrail

KUESS ARCHITEKTUR ZT

2016 gegründet von Architektin DI Nina Kuess Seit 2022 ehrenamtlich tätig als Vorstandsmitglied Sektion Architekt- Innen in der Kammer für ZiviltechnikerInnen Steiermark/Kärnten Büroleitung seit 2018 René Märzendorfer Team in Lieboch von
7 MitarbeiterInnen 

Publikationen
2019 Buch 20 Jahre Unesco-Welterbe Graz „Welterbe-Städte Weiter-bauen“, Veröffentlichung Projekt Stadtbootshaus 2021 Architekturpreis Land Steiermark 
- Anerkennungspreis, Veröffentlichung Projekt Schneebauer Geschwister 

Auszeichnungen
2021 Architekturpreis Land Steiermark - Anerkennungspreis 
2021 Nominierung Holzbaupreis Steiermark

www.kuess.cc

Fotos: OLIVER WOLF, BEIGESTELLT (NINA KUESS, CHRISTIAN REPENIK, OLIVER WILDPANER)

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