Der weststeirische Künstler Jan Böhmer begibt sich mit seiner Kunst auf eine Heldenreise nach dem Grund des menschlichen Seins und fordert uns dazu auf, sich auf ein Kunstwerk bewusst einzulassen. Denn erst über die Kunst könne ein Mensch die Welt anders wahrnehmen und interpretieren. Ein Gespräch über KI, die Wichtigkeit der Gegenperspektive und die Frage, warum Brüste ein zentrales Motiv in der Kunst von Jan Böhmer sind.
Die stärkste Tugend der Menschheit ist die ständige Weiterentwicklung des eigenen Denkens, das vorauseilt zu einem neuen Bewusstseinszustand, einem neuen Ich. Diese Reise dokumentieren die (über-) lebensgroßen Kompositionen des weststeirischen Künstlers Jan Böhmer. „Rückwirkend habe ich mich bereits als Kind auf die Reise der Kunst gemacht, auf die Suche nach dem Grund für das Sein“, sagt Jan Böhmer. „Sicher, als Kind ist man an allem Neuen interessiert, will alles ausprobieren“, weiß der Künstler, doch irgendetwas an ihm war immer anders. „Schon immer war ich ein freier Geist. Wollte mich ausleben in meinen Zeichnungen, die Welt durch sie erst verstehen, mich selbst finden.“ Im Teenageralter gab Böhmer seinem Kreationsdrang, wie er es nennt, nach, probierte sich an unterschiedlichen, teils abstrakten Stilen, entdeckte seine Liebe zum Deutschrap und übernahm daraus seine bis heute gebliebene Liebe zum Schock. Böhmer: „Unbewusst wollte ich schauen, wie die Menschen auf meine Kunst reagieren, die damals sogar noch auffälliger war als heute.“ Als sich Jan Böhmer in die Jagdhütte seines Großvaters zurückzog, sein erstes Atelier, begann die Jagd nach dem eigenen, unverwechselbaren Stil. Als Autodidakt experimentierte er mit verschiedenen Medien und Stilen, war aber nie mit sich zufrieden. „Erst, als ein Freund mir zeigte, wie ich meine Keilrahmen selbst herstellen kann, war die Geburtsstunde des Künstlers Jan Böhmer eingeleitet. Die Größe meiner Werke ist heute eine Art Visitenkarte“, schmunzelt er. Wortwörtlich im „großen Rahmen“ einer ersten Ausstellung outete sich Jan Böhmer schließlich als Künstler. „Obwohl Kunst immer zwischen Authentizität und Kommerz steht, ist ihr eigentlicher Auftrag, gesehen und verstanden zu werden. Wenn ich es schaffe, dass auch nur ein Betrachter anfängt, über meine Kunst nachzudenken, hab ich schon gewonnen. Dass sich jemand mehr als ein paar Sekunden Zeit für ein Bild nimmt, ist selten geworden“, kritisiert Böhmer.
Heute herrscht ein falscher Moralismus. Ich zeige diesen
JAN BÖHMER, KÜNSTLER
durch Motive wie Brüste auf – und provoziere eine Reflexion.“
MASCHINELLER ALLTAG VERSUS MENSCH
Einen Grund dafür sieht Jan Böhmer in der Schnelllebigkeit unseres Arbeitsalltags. „Es ist notwendig, dass wir eine funktionierende Wirtschaft haben und die Menschen arbeiten können. Jeder erfüllt seinen Part, und nur so können wir gemeinsam als Gesellschaft funktionieren. Dennoch wird der Kunst oft kein Wert beigepflichtet“, weiß Böhmer, demzufolge es ein neues Bewertungssystem geben müsste. „Der Wirtschaftskreislauf funktioniert wie eine Maschine. Nur: Der Mensch als empfindungsfähiges Wesen hebt sich von diesem maschinellen Alltag ab“, vergleicht der Künstler und nimmt ein Blatt Papier: „Wenn ich jetzt eine Zeichnung der Wirtschaft machen würde, dann wäre die Kunst eine transparente Folie, die ich drüberlegen und dem Ganzen einen gewissen Glanz verleihen würde. Erst über die Kunst kann ein Mensch die Welt anders wahrnehmen, interpretieren und auf diese Welt eingreifen, weshalb Kunst frei ist.“
VON ANTAGONISTEN UND FALSCHEM MORALISMUS
Dass sich viele an seiner Kunst stören, ist Jan Böhmer sogar recht: „Du brauchst immer einen Antagonisten auf deiner Heldenreise durchs Leben. Der Hauptcharakter wächst erst durch die Gegenperspektive.“ Diese Weiterentwicklung wird ihm zufolge von der heutigen Kunstfeindlichkeit gebremst. „Es herrscht ein falscher Moralismus, der sagt, das darf nicht sein, das kannst du so nicht machen. Etwa bei einfachen Motiven, wenn du z.B. eine Brust zeigst“, so Böhmer. „Brüste sind mein absolutes Lieblingsthema. Einerseits stehe ich privat auf Brüste, ich bin ein Busen-Freund“, lacht Böhmer, „und andererseits finden Brüste Eingang in meine Werke. Allein deshalb, da Reaktionen derart ausfallen, dass Leute sagen: „Das kann ich mir doch nicht in die Wohnung hängen!“, dass du bei Instagram als Künstler gesperrt wirst oder die in Werken von klassischen Künstlern gezeigten Nippel zensiert werden“, schüttelt Jan Böhmer den Kopf. „Es macht mir klarerweise Spaß, extra so etwas zu malen. Indem ich das zeige, zeige ich die Fadenscheinigkeit unseres aktuellen, gesellschaftlichen Pietätsempfindens auf – und provoziere.“
Jan Böhmers 3-D-gedruckte Atombombe schlug ein bei seiner Ausstellung „Do I even want to dismantle an atomic bomb?“
Figuren und Darstellungen der Popkultur in knalligen Farben, provokant anders interpretiert
KUNST STATT LEICHEN
Um sich im Malprozess mit Sprühfarben, Lackfarben und alkoholhaltiger, schwarzer Tinte sowie Kohle auf Stoff frei entfalten zu können, zog der Künstler in ein größeres Atelier in Voitsberg, das früher als Bestattungsinstitut diente. Doch anstatt Leichen aus dem Keller zu holen, beschäftigt sich Böhmer in seinen Mixed-Media Bildern mit Elementen des Zeitgeistes, mit Fantastischem und stets mit der menschlichen Entwicklung. „Meine Bilder weisen, wie der Mensch selbst, Ecken und Kanten auf, haben etwas Raues“ erklärt der Künstler, und spricht damit eine von ihm erfundene Grundierungstechnik an: Jan Böhmer trägt eine dicke Grundierung aus Gips auf, die Erhebungen, Falten, Brüche und damit einen dreidimensionalen Charakter aufweist. „Weg von dem ‚Das-ist-schöne-Kunst-Standard‘!“, wie Jan Böhmer anführt. Erst dann wird der erste Gedanke des entstehenden Bildes skizziert. „Zwar bewegen sich meine Grundthemen um Erotik, Popkultur und einer jugendlichen Grund-Coolness, die immer mit am Bild präsent sein müssen, aber ich habe durchaus Werkserien“, so Böhmer, der als künstlerische Vorbilder Anselm Kiefer, Yoji Shinkawa, Jonathan Meese oder Daniel Richter nennt.
KREATIVITÄT WIRD ÜBER KI TRIUMPHIEREN
Zum anderen beschäftigt sich der Künstler mit neuen Medienformen wie KI, und verarbeitet Eindrücke, die er regelmäßig während seiner Reisen sammelt. „Vor ein paar Jahren stieß ich auf NFTs, und das führte mich dann immer näher an die KI heran. Und je mehr ich mich damit beschäftigte, desto auffallender waren die Reaktionen der Kunstszene. Plötzlich bekommst du ein neues Tool, das dir komplett neue Wege in der Kunstgestaltung eröffnet. Doch am Ende bleibt nur der Aufschrei der Illustratoren und Grafiker, die sagen, KI nimmt uns die Jobs weg. Dabei habe ich die Kunstszene am liberalsten und offensten von allen gehalten“, wundert sich Böhmer. Und wie steht er selbst zur KI? „Es ist ein Werkzeug“, sagt er. In seiner Publikation „Art of Mind and Data“ generierte Jan Böhmer 200 Werke mit einer früheren KI-Version. Dazu nutzte er im Internet verfügbare Open Source Modelle und Cloud Computing Rechenleistung, um eine Datenbank zu gestalten, die als Prompt ausschließlich eigene, bereits existierende Werke Jan Böhmers als Lernmodelle verwendete. „Es entstanden Werke, die meinen Bildern ähnlich sind, aber doch ganz anders, weil sie von einer KI geschaffen wurden. Für mich hat KI ein begrenztes, kreatives Potenzial, da sie nichts Neues macht, sondern lediglich Bestehendes neu formt. Die wahre, menschliche Kreativität wird darüber entscheiden, ob etwas gut oder schlecht ist, und nicht das digitale KI-Handwerk.“
KETTEN DER LETHARGIE AUFSPRENGEN
Darauf angesprochen, ob er seinen Job durch die KI gefährdet sieht, antwortet Jan Böhmer nüchtern: „Für mich persönlich ist es einfach, da ich einen 40-Stunden Job im Marketing habe und nicht von der Kunst leben muss. Ich merke in der Szene aber die Angst, gerade bei jüngeren Künstlern. Und mit der Angst geht die Entwicklung dahin, dass es selten noch um einen Qualitätsbegriffgeht. Deshalb wird immer mehr Mist produziert. Das führt sich fort bei Streamingserien, die immer flacher werden, keine Geschichte mehr erzählen, nicht mehr berühren. Echt: Was ist da los?“ Jan Böhmer will wachrütteln, die Ketten der Kunstlethargie aufsprengen. In der Coronazeit nahm er Skulpturen in sein Repertoire auf. In der Ausstellung „Do I even want to dismantle an atomic bomb?“ In 3-D printete er das Modell einer Atombombe im Maßstab 1:1 und zeigte einen Plan, welchen Schadensbereich diese Atombombe bei Detonation vor Ort anrichten würde. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der nicht mehr deeskaliert wird. Würden wir die Atombombe entschärfen? Oder machen wir einfach immer so weiter, wie wir es auch bei Umweltverschutzung und Klimawandel machen, anstatt wirklich etwas zu verändern?“, fragt Böhmer, als er den letzten Schluck Kaffee trinkt und augenzwinkernd sagt: „Jetzt muss ich aber weitermachen!“
Jan Böhmer
Geboren 1990 in Voitsberg
Mixed Media Artist, Bildende Kunst und Skulpturen
Jüngste Ausstellungen (Auswahl)
Jan Böhmer x Ginger, Ginger Bar, Graz (2022)
SAMA im GATTO, Graz (2023)
Space Dinosaur, Arik Brauer Rathaus, Voitsberg (2023)
Kaiserfeld, Graz (2024)
Kooperation mit Bacardi/ Saw this, Made this, Graz (2024)
Fotos: Oliver Wolf