Med-Uni-Graz-Rektorin Andrea Kurz sprach mit „SPIRIT of Styria“ über die Unterschiede zwischen den Forschungsstandorten USA und Europa, das aktuell notwendige Mindset für Veränderungen, die steirischen Stärken und das Th ema individuelle Eigenverantwortung für die Gesundheit.
Nach fast drei Jahrzehnten professioneller Karriere in den USA stehen Sie seit einem Jahr an der Spitze der Med Uni Graz. Wie geht es Ihnen in der neuen-alten Heimat?
Am Anfang war der Kulturschock sehr groß, mittlerweile geht es mir deutlich besser. Gewisse Dinge fallen mir nach wie vor schwer, und an alles will ich mich gar nicht gewöhnen. (lacht)
Was gab den Ausschlag dafür, das Rektorat in Graz anzunehmen?
An der Aufgabe reizte mich der Gestaltungsspielraum: Ich freute mich auf ein Arbeitsgebiet, in dem ich etwas kreieren, schaffen und verändern kann.

„Viele künftige Studien-abgänger wollen in Teilzeit arbeiten. Der Trend stellt das System vor weitere Herausforderungen.“
ANDREA KURZ
Rektorin Med Uni Graz
Wie unterscheiden sich die Forschungsstandorte USA und Europa aus Ihrer persönlichen Erfahrung heraus?
In den Staaten ist alles größer dimensioniert und es gibt aufgrund der hohen industriellen Investitionen mehr Geld für die Forschung. Die offene Mentalität der Menschen lässt die interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit natürlich wachsen und bringt Spitzenforschung hervor. Das gibt es alles auch in Europa, aber wir promoten es weniger: Die USA stellen ihre Errungenschaften glorreich dar. Hier sind wir verhalten: Wenn etwas gut geht, betrachtet man es als selbstverständlich. Wenn etwas schlecht geht, sind alle deprimiert. Das ist die österreichische Mentalität.
Wie erleben Sie diese Unterschiede in der Praxis?
Wenn wir drüben ein Projekt gestartet haben – in der Forschung, der Patientenversorgung oder eine strukturelle Änderung –, funktionierte das gut: Es gab ein Ziel und alle haben darauf hingearbeitet. Wenn ich hier etwas Neues initiiere, erklären mir zuerst alle Beteiligten, wieso das nicht geht. Genau dieser Mindset hält uns auf. In Konkurrenz zu anderen Standorten können wir uns diese Einstellung nicht leisten. Wir müssen den Switch hin zum Positiven schaffen und schauen, was möglich ist.
Medizin und Life Science sind stabile Standortstärken. Woran liegt das und wo sehen Sie das größte Potenzial?
Es ist derzeit schwierig, Standorte abschließend zu bewerten, weil viel, auch politisch, im Umbruch ist. In der Steiermark ist das Know-how gewachsen. Es herrscht eine Tradition der Zusammenarbeit. Die Med Uni Graz kooperiert u. a. mit der Technischen Universität, der Universität Graz, mit der Kunstuniversität. Wir teilen unser Wissen mit dem Ziel, einander zu unterstützen. Das ist nicht selbstverständlich. In Wien, wo ich ebenfalls tätig war (allerdings vor 30 Jahren), war diese Kultur weit weniger ausgeprägt. Internationale etablierte steirische Forschungsfelder sind die Onkologie, die Neurowissenschaften, das Thema Herz-Kreislauf, das Mikrobiom, Infektionen und die Alterungsforschung: Hier entsteht in Kooperation mit der Universität Graz u. a. gerade MetAGE, ein interdisziplinärer, vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF mit 18 Millionen Euro geförderter Cluster of Excellence.
Die Menschen werden älter, aber nicht unbedingt gesünder – wie verändert das den Gesundheitsmarkt?
Handlungsbedarf herrscht in der flächendeckenden Gesundheitsversorgung. Es landen zu viele Menschen im Spital, weil sie im regionalen niedergelassenen Bereich keine durchgängige Versorgung bekommen. Wir müssen uns fragen: Was können Pflege, Berufsgruppen aus der physikalischen Therapie und niedergelassene Ärzte in Praxisgemeinschaften leisten? Unsere Aufgabe als medizinische Universität ist, Bewusstsein zu schaffen, das Problem bereits in der Lehre zu thematisieren und Schwerpunkte in der Peripherie zu setzen.

Andrea Kurz
Die international renommierte Wissenschafterin absolvierte ihr Medizinstudium sowie ihre Facharztausbildung im Bereich Anästhesie und Intensivmedizin an der Medizinischen Universität Wien, an der sie sich auch habilitierte.
In ihrem beruflichen Werdegang hatte sie zahlreiche Führungsfunktionen im universitären und klinischen Bereich inne, u. a. an der Washington University, am Universitätsspital Bern und an der renommierten Cleveland Clinic im US-Bundesstaat Ohio.
Kurz betreibt seit rund 25 Jahren klinische Forschung an vorderster Front und hat mehr als 250 wissenschaftliche Artikel publiziert.
Am 15. Februar 2024 folgte sie Hellmut Samonigg als neue Rektorin der Med Uni Graz.
Liegt die Lösung darin, unser Konzept der Verantwortung für das Thema Gesundheit zu erweitern?
Ja. Diejenigen, die wir am meisten zur Verantwortung ziehen müssen, sind die Patienten selbst! Viele Menschen sind nicht ausreichend über Prävention informiert und in Folge oft wirklich schwer krank. Sie kommen zum Teil mit gravierenden Gesundheitsproblemen in die Klinik. Deshalb haben wir eine neue Professur für Wissenschaftskommunikation ins Leben gerufen: Um die Öffentlichkeit noch besser informieren zu können und Menschen dazu zu ermutigen, selbst Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen.
Medizinische
Universität Graz
Österreichisches Zentrum der innovativen Spitzenmedizin
2.500
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Bereich
5.000
Studierende in den Studienrichtungen Humanmedizin, Zahnmedizin, Pflegewissenschaft, Medizinische Wissenschaft, im PhD-Programm und in zahlreichen postgraduellen Universitätslehrgängen
1.000
Absolventinnen und Absolventen pro Jahr
2.500
wissenschaftliche Publikationen
530
klinische Studien jährlich
3
Nobelpreisträger
18
Universitätskliniken
Globalbudget 2025-27: mehr als
736
Millionen Euro
Gleichzeitig klagen viele über die steigenden Kosten in der Gesundheitsversorgung …
Es herrschte lange der Eindruck, ärztliche Hilfe sei allerorts frei verfügbar und man könne sozusagen alles reparieren. Selbst wenn, geschieht das zu einem sehr hohen Preis – sowohl, was das Erleben des Patienten betrifft, als auch die finanziellen Aufwände.
Die Lösung?
Wir müssen lernen, mit begrenzten Ressourcen hauszuhalten; Prozesse und Strukturen zu verändern, statt immer nur mehr zu verlangen. Wenn ich etwas Neues vorschlage, höre ich oft: Das geht nur, wenn ich mehr Leute oder Ressourcen bekomme. Was ich hingegen hören will, ist: Das können wir machen, wenn wir diese Prozesse verändern und jene Strukturen neu ordnen. Dieser Gedanke muss sich festigen.
Stichwort Fachkräftemangel?
Im Vergleich zu anderen Ländern sind unsere Absolventenzahlen sehr hoch. Im europäischen Vergleich verfügt Österreich über das mit Abstand beste Verhältnis zwischen Ärzten und Einwohnern. Auf 100.000 Menschen kommen mehr als 550 Ärzte. Womit wir jetzt kämpfen: Künftig werden unsere Studienabgänger nicht mehr 1:1 Ärztinnen und Ärzte, sondern wollen häufig in Teilzeit arbeiten. Ein Trend, der das System vor Herausforderungen stellt.
Dem gegenüber stehen die Einsparungspotenziale durch Digitalisierung und KI.
Wir stehen hier erst am Anfang. Derzeit unterstützen uns diese Technologien und verbessern die Ergebnisse, etwa im Bereich der bildgebenden Verfahren. Später könnte etwa ein intelligentes technologiegestütztes Patienten-Monitoring bei OPs tatsächlich weniger Ärztepersonal erfordern. Ob die Technologie die verringerte Arbeitszeit abfedert, werden wir sehen: In Österreich haben wir noch nicht einmal das geeignete Datenmanagement dafür. Hier sehe ich wirklich Aufholbedarf.
Wie stehen Sie zum Spannungsfeld zwischen unabhängiger Wissenschaft und dem Einfluss industrieller Gelder?
Das Funding der Med Uni Graz konnte in den letzten Jahren konstant zulegen. Fördergeber sind die EU, nationale Institutionen und Unternehmen. Ich betrachte Kooperationen mit Unternehmen nicht mit Vorbehalt, im Gegenteil: Solange die Projekte wissenschaftlich und wirtschaftlich einwandfrei abgewickelt werden, ist es eine Bereicherung.
Wer mithalten will, muss lernen, mit weniger Ressourcen mehr zu erreichen.“
ANDREA KURZ, Rektorin Med Uni Graz
Wo setzen Sie die strategischen Schwerpunkte Ihrer Amtszeit?
Der Kurs steht auf Kulturwandel; aufgeschlüsselt in die Bereiche Forschung, Patientenbetreuung, Lehre und Human Resources. Wir entwickeln unser Forschungsprofil und die Internationalisierung weiter; das heißt u. a., unsere Karrierewege im Hinblick auf ihre internationale Tauglichkeit zu evaluieren. Ganz wichtig ist die Zusammenarbeit mit der KAGes für gemeinsame Ziele in der Patientenversorgung. Wir setzen das Curriculum des Humanmedizinstudiums neu auf und etablieren in Kooperation mit anderen Universitäten das Psychotherapiestudium. Weitere Themen sind Cybersecurity und mindestens ein Drittel weiblich besetzte Professuren. Über allem steht die Effizienz: Wo verlieren wir Zeit und Ressourcen? Welche neuen Prozesse erzielen mit weniger Auf-wand mehr Output?
Sprechen wir über medizinische Versorgung am Lebensende. Explodierende Kosten, Diskussionen über adäquate Therapien und Sterben immer noch als Tabuthema. Ihre Gedanken dazu?
Die End-of-Life-Care ist ein schwieriges Thema, das leider nicht ausreichend Beachtung findet. Es geht dabei auch um finanzielle Aspekte, vor allem aber um menschliche: Wie viele Therapien muten wir einem Menschen am Lebensende noch zu, was ist sinnvoll? Es bräuchte interdisziplinäre und interprofessionelle Arbeitsgruppen, die dieses Thema sorgfältig auf einer fachlichen Ebene betrachten und erforschen, wie wir den Patienten in diesem Lebensabschnitt gerecht werden. Die Tendenz: Man spricht das Thema zu wenig an – im Familienkreis, mit den Patienten, vielleicht auch unter Fachleuten. Sterben ist individuell. Abhilfe schaffen könnten persönliche Patientenverfügungen, die alle Beteiligten ernst nehmen, und der mutige Diskurs zu Lebzeiten, damit wir den Tod als Teil des Lebens verstehen.
Fotos: Oliver Wolf