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DER HERR DER FRUCHTFLIEGEN: Neurochirurgie auf 200 Mikrometern

Lukas Groschner vom Lehrstuhl für Molekularbiologie und Biochemie der Med Uni Graz  untersucht, wie Nervensysteme intelligentes Verhalten hervorbringen – konkret etwa die Entscheidungsfindung und das Kurzzeitgedächtnis. Wie lange trainiert man, um Fruchtfliegenhirne händisch zu öffnen? Warum können wir uns nicht erinnern, was wir vor drei Wochen im Supermarkt gekauft haben? Und wieso erzielt ausgerechnet die Grundlagenforschung oft bahnbrechende Fortschritte? Die Antworten lesen Sie hier.

Hunderte Millionen Menschen leiden weltweit an psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen, Tendenz steigend. „All diese Leiden gehen auf die eine oder andere Weise darauf zurück, dass die Weiterleitung oder die Verarbeitung von Information im Gehirn gestört ist“, erklärt Lukas Groschner, Lehrstuhl für Molekularbiologie und Biochemie an der Med Uni Graz. Die molekularen Neurowissenschaften stellen ein besonders herausforderndes Tätigkeitsfeld dar: Wir wissen zu wenig über unser eigenes Gehirn. „Es ist wohl das Komplexeste, was wir in unserem Sonnensystem vorfinden – 96 Milliarden Nervenzellen, die ihrerseits jeweils Zehntausende Verbindungen mit anderen Zellen knüpfen und unzählige verschiedene Informationen parallel verarbeiten.“ Im Sinne der Komplexitätsreduktion widmet sich der Grazer deshalb der Fruchtfliege. Diese kommt mit nur 150.000 Nervenzellen im Gehirn aus und „trifft dennoch intelligente Entscheidungen, die mit unseren menschlichen vergleichbar sind“. Der reduktionistische Ansatz funktioniert, da die elektrischen Schaltkreise im Fliegenhirn identisch mit denen anderer Spezies sind: „Wenn wir uns das Gehirn einer Fliege anschauen, lernen wir auch etwas über Wirbeltiere oder uns als Primaten.“

„Grundlagenforschung braucht es in allen Fachrichtungen. Die wichtigsten Entdeckungen basieren einzig und alleine auf der Neugier der Forschenden.“

LUKAS GROSCHNER
FORSCHER AN DER MED UNI GRAZ

WIE HIESS IHR VOLKSCHULLEHRER?
Seit Jänner forschen Lukas Groschner und sein Team nun an temporären Merkmechanismen im Gehirn. Das fünfjährige Projekt wird mit einem millionendotierten ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC) gefördert. Inhalt: Unser Gehirn verarbeitet Signale in unterschiedlichen zeitlichen Kategorien, die gemeinsam mindestens neun Größenordnungen abdecken. Manche Reaktionen passieren blitzschnell in Sekundenbruchteilen, andere Dinge lernen wir über bzw. für lange Zeiträume durch synaptische Plastizität. Lukas Groschner interessiert sich vor allem für den Bereich dazwischen, der noch weitgehend unerforscht ist: Das biologische „long short-term memory“ reicht von einigen Hundertstelsekunden bis zu mehreren Minuten. „An den Namen ihrer Volksschullehrerin oder ihres Volksschullehrers können sich viele Menschen ein Leben lang erinnern.“ Andere Dinge merken wir uns nur so lange, wie wir sie brauchen. Anschließend werden sie gelöscht – durchaus sinnvoll, weil so Kapazitäten frei bleiben für Neues. „Wenn ich Sie nach Ihrem Supermarkt-Einkauf vor drei Wochen frage, haben Sie vermutlich vergessen, was auf der Einkaufsliste stand. Sobald die Gurke im Einkaufswagen liegt, verschwindet sie aus unserem Speicher.“ Groschner möchte die Strukturen dieser kurzzeitigen Merkprozesse aufschlüsseln: „Wenn wir begreifen, wie das Gehirn Inhalte im Kurzzeitgedächtnis behält, verstehen wir eines Tages vielleicht auch, warum das bei manchen Menschen nicht mehr funktioniert.“ Stichwort Demenzerkrankungen – ein Volksleiden.

DIE FRUCHTFLIEGE UND AUTOFAHREN IM NEBEL
Ein weiterer Forschungsansatz zielt auf die hirnphysiologische Entscheidungsfindung ab: Wie Menschen suchen auch Fruchtfliegen bei schwierigen Fragestellungen länger nach einer Lösung. „Wir haben den Tieren beigebracht, einen bestimmten Geruch in spezifischer Konzentration abzulehnen. Dann füllen wir die zwei Hälften einer Kammer mit unterschiedlichen Dosen dieses Aromas – eine mit der negativ konnotierten und eine mit einer abweichenden.“ Je mehr die beiden Duftkonzentrationen einander ähneln, desto länger braucht die Fliege, um sich für eine Hälfte der Kammer zu entscheiden. Ähnliches funktioniert auch visuell im Fruchtfliegen-Flugsimulator, einer Art Kino für Fliegen: „Wir spielen ihnen verschiedene Filme vor.“ Je geringer der Kontrast, umso länger muss die Fliege „nachdenken“ bevor sie auf das Gesehene reagiert – ähnlich wie ein Autofahrer bei schlechter Sicht im Nebel eine längere Reaktionszeit hat. „So wollen wir herausfinden, wie das Hirn die vorhandenen Informationen über einen gewissen Zeitraum aufsummiert, wenn nicht ausreichend klare oder widersprüchliche sensorische Eindrücke vorhanden sind.“

Im Zuge einer Aufzeichnung der elektrischen Aktivität von Nervenzellen im Gehirn der lebenden Fruchtfliege (l.) wurde eine Zelle gelb gefärbt (r.).

Genetisch veränderte Nervenzellen im Fliegengehirn (blau) fluoreszieren in verschiedenen Farben.

Elektrophysiologische Untersuchung einer einzelnen Zelle.

OPTOGENETIK – EIN PARADIGMENWECHSEL
Die Wissenschafter beobachten die elektrische Aktivität der Nervenzellen unter dem Mikroskop, messen sie mit winzigen Elektroden und beeinflussen sie auch. Letzteres ist erst seit der Begründung der Optogenetik vor zwei Jahrzehnten möglich – ein bahnbrechender Fortschritt in der Neurowissenschaft. Lukas Groschners Doktorvater, der in Oxford tätige Österreicher Gero Miesenböck, hat die Technologie mitentwickelt. „Seit wir einzelne Nervenzellen mit Licht ein- und ausschalten können, haben sich die Neurowissenschaften von einem eher phänomenologischen zu einem interventionellen Fach gewandelt. Wir beobachten nicht nur, wir greifen auch ein“, berichtet der Grazer. Ähnlich wie Biochemiker Gene mutieren oder aus der DNA herausschneiden, nehmen Groschner und seine Fachkolleginnen Nervenzellen aus Schaltkreisen heraus und beobachten, wie sich Hirnprozesse dadurch verändern. Mittlerweile hat die Wissenschaft einen vollständigen elektronenmikroskopisch rekonstruierten Schaltplan des Gehirns sowie des Rückenmarks der Fruchtfliege erarbeitet. „Sie ist der bisher größte Organismus auf der Erde, bei dem das gelungen ist. Der Plan steht der Forschung weltweit online zur Verfügung.“

FLIEGEN NEUROCHIRURGIE AUF 0,5 MM
Apropos Größe: An der breitesten Stelle misst das Fruchtfliegengehirn etwa einen halben Millimeter, im Schnitt nur etwa 200 Mikrometer. „Wenn eine Studentin oder ein Student bei uns anfängt, trainiert sie bzw. er einmal mindestens zwei Wochen am (zehn- bis 100-fach vergrößernden) Mikroskop, meistens länger. Sie absolvieren sozusagen ihre Einführung als Fliegenneurochirurgen.“ Das Forschungsszenario im Labor: Die Wissenschafter bohren ein Loch in den Chitinpanzer des Fliegenkopfes, um zum Hirn durchzudringen und das Nervensystem beobachten zu können. Das Tier läuft während der Experimente auf Bällen wie auf einer Art Lauf-band. „Es braucht also wirklich eine ruhige Hand. Unsere Pinzetten sind die feinsten, die es gibt. Wir schleifen sie zusätzlich unter dem Mikroskop, damit sie uns ganz präzise Handgriffe erlauben.“ Da in den Neurowissenschaften riesiger Erkenntnisbedarf herrscht, subventioniert die EU gezielt die Grundlagenforschung. Denn nichts geht (weiter) ohne diese Arbeit, die auf keine konkrete Anwendung am Markt ausgerichtet ist. Groschner: „Diese Art der wissenschaftlichen Tätigkeit ist wahnsinnig wichtig – in allen Fachrichtungen. Die wichtigsten Entdeckungen basieren einzig und alleine auf der Neugier der Forschenden.“ Optogenetik etwa wurde nicht entwickelt, um Blinde zu heilen. Im Jahr 2021 gelang es durch die Technologie dennoch, einem blinden Mann eine teilweise Sehfähigkeit wiederzugeben. Fazit: Der Einfluss der Grundlagenforschung auf die Lösung konkreter Probleme könnte größer nicht sein. „Die bahnbrechenden Erkenntnisse passieren dann, wenn man etwas wirklich Verrücktes probiert.“ Es bleibt spannend.

Lukas Groschner
Geboren 1988 in Graz, verheiratet, Medizinstudium in Graz mit Studienaufenthalten Melbourne (AUS) und Oxford (UK),
2013 Promotion
2018 PhD Neurowissenschaften, University of Oxford (UK)
bis 2023 Postdoc, Max-Planck-Institut für Neurobiologie (D)
2023 Gruppenleiter, Francis Crick Institute (UK)
seit 2023 Gastforscher, Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz (D)
seit 2024 Assistenzprofessor, Medizinische Universität Graz

Auszeichnungen
2023: Schilling Research Award 2023, German Neuroscience Society,
ERC Starting Grant TEMPRODROME (GA no. 101116996), European Union
2021: Marie Skłodowska-Curie Individual Fellowship MOVIS (GA no. 896143), European Union
2019: Long-Term Fellowship (ALTF 365-2019), European Molecular Biology Organization

FOTOS: LUKAS GROSCHNER, KEVIN ALBERTINI

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