Spirit of Styria

Damit der Mensch NICHT VERSCHWINDET

Julia Ring und Jelena Tadic vom Institut für Molekulare Biowissenschaften  an der Uni Graz erforschten das Protein DnaJA1, das bei der Entstehung von Alzheimer wahrscheinlich eine Schlüsselrolle spielt. Warum es so schwer ist, diese Krankheit wissenschaftlich zu verstehen, welchen Beitrag die Grundlagenforschung dazu leistet und welche Faktoren vorbeugend wirken können – darüber sprachen wir mit den preisgekrönten Wissenschaftlerinnen.

Gewinnerinnen des „INGE St. Forschungspreis 2023 der Initiative Gehirnforschung Steiermark“ und
Finalistinnen beim „SPIRIT-Award for Women in Science“: Jelena Tadic (l.) und Julia Ring

Über 11 Millionen Menschen in Europa leiden an einer Demenz. Die Folgen sind fortschreitende Verluste der geistigen und motorischen Fähigkeiten, die erkrankte Menschen in die Isolation und Pflegebedürftigkeit treiben. Umso wichtiger ist es, neurodegenerative Krankheiten in der Grundlage intensiv zu erforschen: Nur ein besseres Verständnis der molekularen Mechanismen, die hinter Demenz und Co. stecken, bereitet den Weg für effektive Therapien.

HILFLOS ZUSCHAUEN
Lebensqualität im Alter – ein hochaktuelles Thema. „Der alte König in seinem Exil“ betitelte Arno Geiger seinen Bestseller, der eindringlich schildert, wie der Erfolgsautor seinen Vater an Alzheimer verliert. „Man muss hilflos zuschauen, wie der Mensch verschwindet“, formuliert es Jelena Tadic, deren Großmütter beide dieses Schicksal erlitten. Just im selben Jahr, als Geiger das Buch veröffentlichte, begannen auch Julia Ring und Jelena Tadic gemeinsam zu forschen: 2011. „Im Zuge meiner Dissertation gelang es mir, im Labor Hefezellen herzustellen, die Eigenschaften von Nervenzellen eines an Alzheimer erkrankten Gehirns aufweisen“, erklärt Julia Ring. Hefe, ein beliebter Modellorganismus in der Zellbiologischen Forschung, diente den beiden Forscherinnen als biologisches Studienmodell, ebenso wie Fruchtfliegen sowie menschliches Post-mortem-Gewebe, das in der Studie verwendet wurde. Inspiriert durch die früheren Arbeiten von Frank Madeo und Kai-Uwe Fröhlich in Graz und gemeinsam mit ihnen hatte sich die gebürtige Kärntnerin (Völkermarkt) bereits auf Alters- und Zelltodforschung spezialisiert. „Der Vorteil der Hefe ist, dass wir einzelne Gene relativ einfach ausschalten können und beobachten, was in der Zelle passiert, wenn ein bestimmtes Protein fehlt.“ Mit einem großen genetischen Screen wurde nach Schüsselfaktoren gesucht, die Zellstress und Zellsterben im Laufe der Alzheimererkrankung fördern – „und es waren einige ‚Hits‘, also Erkenntnisse für interessante Studienansätze, dabei“. Zur selben Zeit erschien eine Studie, die geschädigte Mitochondrien im Hirn kausal mit Alzheimer in Verbindung bringt – und genau hier, im Zusammenspiel mit Mitochondrien, kommt das Protein DnaJA1 zum Einsatz. „Mitochondrien sind die Energieproduzenten der Zellen, vergleichbar mit Kraftwerken“, erklärt Ring. „Da das Gehirn einen enormen Energiebedarf hat, können Störungen hier schnell zu Stress und Zelltod führen, was die Hirnleistung kritisch beeinträchtigen kann.“

Julia Ring
Geb. 1982 in Klagenfurt 
Masterstudium Molekulare Mikrobiologie an der Uni Graz
2007 Diplom und 2012; Dissertation ebendort
Darauffolgende Auslandsforschungsaufenthalte u. a. an der Freien Universität in Berlin (2014)
Seit 2023 Studium der Ernährungswissenschaften an der Uni Wien
Lehrtätigkeit seit 2009 (Uni Graz)
2022 Young Investor Award der Österreichischen Alzheimergesellschaft
INGE St. Forschungspreis 2023 der Initiative Gehirnforschung Steiermark 
April 2024 Drei Kinder, Ernährungsblog: 
https://ringshealthkitchen.com (derzeit ruhend)

ÜBERRASCHEND: ZWEI GESICHTER
DnaJA1 zählt zur Familie der heat shock proteins (Hitzeschockproteine, HSP), deren Aufgabe eigentlich „Aufräumarbeiten“ sind, also Schutz und -stabilisierung der Zelle in Stresssituationen. Studien hatten dieser Proteinfamilie uneingeschränkt positive Wirkungen attestiert: „Man sprach davon, dass Medikamente, die das HSP-Vorkommen in der Zelle pushen, einen entscheidenden Fortschritt in der Alzheimer-Therapie bringen könnten.“ Und nun die überraschende Erkenntnis: Das von Ring und Tadic erforschte HSP DnaJA1 bewirkt das Gegenteil. Es stabilisiert ein mit der Krankheit assoziiertes Peptid (sogenannt Amyloid beta) und fördert so Transport zu den Mitochondrien, was Stress auslöst. Nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand schützt und schädigt das Protein gleichermaßen – eine Doppelrolle.

Eine reine Verlängerung der Lebensdauer um jeden Preis ist nicht immer sinnvoll. Wir müssen eine Verlängerung der Gesundheit im Alter erreichen.

JELENA TADIC, MOLEKULARBIOLOGIN

Für diese wissenschaftliche Leistung hat die österreichische Alzheimer-Gesellschaft die beiden Grazer Molekularbiologinnen der Universität Graz mit einem Young Investigator Award ausgezeichnet. Mehr als 200 führende Neurologen und Psychiater sowie Pflegekräfte und Grundlagenforscher sind Mitglieder dieser Gesellschaft. An der ausgezeichneten Studie arbeiteten Forscherinnen und Forscher aus Österreich, Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Insgesamt waren über 30 Wissenschaftler beteiligt.

Jelena Tadic
Geb. 1989 in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina
Masterstudium Molekulare Mikrobiologie an der Uni Graz
2014 Diplom und 2018 Dissertation ebendort
Darauffolgende Auslandsforschungsaufenthalte in Finnland, Deutschland und Australien
Lehrtätigkeit im Labor seit 2014 (Uni Graz)
2022 Young Investor Award der Österreichischen Alzheimergesellschaft
Hermann Esterbauer Mobility Award 2022
INGE St. Forschungspreis 2023 der Initiative Gehirnforschung Steiermark
April 2024 Ein Kind

NOCH ZU WENIG VERSTÄNDNIS
Nach der Studie ist vor der Studie: „Die Herausforderung der Alzheimererkrankung ist ihre Komplexität. Insgesamt versteht die Wissenschaft noch viel zu wenig über die vielschichtigen Prozesse im Hirn, die das Leiden auslösen,“ schildert Jelena Tadic. Eine kürzlich veröffentlichte Studie spricht von fünf unterschiedlichen Alzheimer-Typen. Zudem geht man davon aus, dass die Krankheit bereits 20 bis 30 (!) Jahre vor dem Auftreten der ersten Symptome entsteht. Auch das Vorkommen von DnaJA1 schwankt stark in den Lebensjahrzehnten von stark in der Pubertät bis zu geringer werdend im Alter. Tadic: „Wir wissen nicht genau, wann man dieses Protein beeinflussen (zB. reduzieren) müsste, um die Krankheit sinnvoll zu therapieren. Gleichzeitig Alzheimerpatienten Schlafstörungen,“ erklärt die in Sarajevo geborene Tadic. In Kooperation mit australischen Forschern untersucht sie derzeit gemeinsam sollte die positive Wirkung von DnaJA1 in der Zelle natürlich erhalten bleiben.“ Weitere Rätsel geben die Unterschiede in der individuellen Verfassung auf. Ring: „Es gibt Patienten, die mit milden Gehirnveränderungen schon erhebliche Auswirkungen auf die kognitive Funktion und das tägliche Leben haben. Andere können auf Grund ihrer kognitiven Reserven ihre Defizite noch sehr gut kompensieren, sodass sie im Alltag noch sehr kompetent wirken, obwohl durch die Erkrankung vermehrt strukturelle Schädigungen im Gehirn sichtbar sind.“

Bildung und Wissenschaft im Bereich Ernährung sind heute relevanter denn je. Denn das Wissen über gesunde Ernährung ist nicht nur der Schlüssel zu einem langen, sondern vor allem zu einem gesunden Leben.

JULIA RING, MOLEKULARBIOLOGIN

GESUNDHEITS- STATT LEBENSDAUER
Nach Jahrzehnten ganz ohne Therapien gibt es heute zwar einige Medikamente: Sie bekämpfen aber lediglich die Symptome und können zudem nur in speziellen Fällen eingesetzt werden. Dazu kommen zahlreiche Nebenwirkungen. Statt also den Livespan (Lebensdauer) zu verlängern, ginge es ihr als Wissenschaftlerin vielmehr darum, den Healthspan (Gesundheitsdauer) zu erforschen. Aktuell widmet sich Jelena Tadic deshalb der Prävention von Alzheimer und anderen altersassoziierten Erkrankungen. „Wer im Alter von 50 bis 70 Jahren nur eine Stunde täglich weniger schläft, also sechs statt sieben Stunden, hat ein 30 Prozent höheres Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Umgekehrt haben vier von zehn mit Frank Madeo und Tobias Eisenberg an der Universität Graz, wie man die Schlafqualität im Alter verbessern kann. Bewegung und, ganz wichtig, soziale Kontakte sind weitere wichtige Faktoren in der Alzheimerprävention.

LEBENSERWARTUNG SINKT WIEDER
Julia Ring setzt aktuell ihren Schwerpunkt auf Ernährung, die einen großen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden im Alter hat. „Die gesellschaftliche Entwicklung und Aufklärung in puncto Ernährung ist noch ausbaubar. Das betrifft vor allem die Bildung. So könnte man beispielweise vermehrt an Schulen, aber auch Hochschulen Ernährungs- und Gesundheitswissenschaften unterrichten.“ Ring absolviert derzeit das Studium der Ernährungswissenschaften an der Universität Wien und hält selbst Vorlesungen zu verwandten Themen. „Die Wissenschaft vermutet, dass durch falsche Essensgewohnheiten die Lebenserwartung in Ländern wie den USA bereits wieder sinkt.“ Jelena Tadic resümiert: „Ich wollte als Kind schon Wissenschaftlerin werden. Spätestens seit der Erkrankung meiner beiden Groß-mütter bin ich fest entschlossen, all meine Kräfte in die Alzheimer-Erforschung zu stecken. Ich hoffe sehr, dass wir in 20 Jahren erste wirksame Medikamente haben.“

FOTOS: UNI GRAZ/LUNGHAMMER

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