Industrielogistik ist eine wachsende und immer komplexere Aufgabe, die Unternehmen aller Größen und Branchen vor Herausforderungen stellt. Manuel Woschank vom Lehrstuhl Industrielogistik der Montanuniversität Leoben untersucht neue Methoden, Technologien und Technologiekonzepte an der Schnittstelle von Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung.
Industrielogistik plant, gestaltet, koordiniert und kontrolliert alle produktionsbezogenen Prozesse in einem Unternehmen, sowohl intern als auch extern im Zusammenspiel mit Kunden und Lieferanten“, so die Definition. Das kommt sprachlich trocken daher. In Wahrheit verkörpert das Fachgebiet jedoch den Herzschlag eines jeden Unternehmens, seinen Blutkreislauf und seine Lebenskraft. Wer beschafft was wann, wo wird was gelagert, durch wen wird was wie bereitgestellt? Wie und wodurch werden Arbeitskräfte, Güter, Energie oder Informationen eingesetzt? Was macht der Mensch, was die Maschine? Und wer oder was korrigiert, wenn etwas schiefläuft?
INTERNATIONAL AN DER SPITZE PRÄSENT
Manuel Woschank hat sein Leben in den Dienst dieser Disziplin gestellt, besser gesagt, dieser Kunst. „Meine Bildungs- und Berufslaufbahn basierte von Beginn an auf den Säulen Wirtschaft, Technik und Informatik“, sagt der habilitierte Wirtschaftsingenieur. Er sammelte internationale Erfahrungen in Wissenschaft und Industrie und ist seit 2016 am Lehrstuhl Industrielogistik an der Montanuniversität Leoben tätig. „Das Zusammenspiel aus Industrieprojekten, Forschung und Lehre fasziniert mich; wir arbeiten sehr praxisorientiert und sind durch unsere Publikationen gleichzeitig international an der Spitze präsent“, streut er seinem Institut Rosen. Nie war Industrielogistik für Unternehmen bedeutender als heute, und nie sahen sich die Betriebe mit komplexeren Aufgaben konfrontiert. Den Herausforderungen der „Industrie 5.0“ zu begegnen, verlangt Strategieverantwortlichen in Betrieben einen wahren Kraftakt ab. „Es gilt, sich langfristig dem Wandel zu stellen und vorausschauende Lösungen zu entwickeln – das alles neben dem Tagesgeschäft, ein faszinierender Wahnsinn.“
„Es gilt, sich dem Wandel zu stellen
und vorausschauende Lösungen zu entwickeln – das alles neben dem Tagesgeschäft, ein faszinierender
Wahnsinn.“
MANUEL WOSCHANK
LEHRSTUHL INDUSTRIELOGISTIK MUL
BENCHMARK: MILITÄRISCHE TRUPPENVERSORGUNG
Der Beginn: „Am Anfang der Industrialisierung genossen Unternehmen den Luxus, dass sie alles, was sie zur Produktion benötigten, nahezu problemlos vom Markt beziehen konnten.“ Lieferketten waren kurz und oft regional verankert, die Produktionslogistik zwischen Mensch und Maschine hielt sich in überschaubaren Grenzen. Im Laufe der Zeit sahen sich immer mehr Betriebe mit Beschaffungsproblemen konfrontiert und bemerkten, dass Logistik direkten Einfluss auf die eigene Wirtschaftlichkeit nimmt. Der Ruf nach Professionalisierung wurde laut. „Man orientierte sich an anderen Disziplinen wie beispielsweise der Kriegsführung und fragte sich: Wie baut das Militär die Versorgungsketten seiner Truppen auf und garantiert, dass Notwendiges zeitgerecht am richtigen Ort ankommt?“
GEGENSÄTZE VEREINEN
Die nächsten Jahrzehnte brachten rasante Entwicklungen; immer mehr ging es nicht nur um die material- und ressourcentechnische Versorgung von außen, sondern zunehmend um innerbetriebliche Koordination und Kommunikation. Die stete Challenge: unterschiedliche strategische Gewichtungen der einzelnen Unternehmensabteilungen auszubalancieren. „Ein klassisches Beispiel, das wir in vielen Industrieprojekten bearbeiten, ist die Bestandsoptimierung. Die Einkaufseinheit möchte großzügige Lager anlegen, die Versorgungsengpässe abpuffern, durch Großbestellungen Skonti ermöglichen und Spielraum für die Gestaltung von Arbeitsprozessen schaffen.“ Das kostet Geld und bindet Ressourcen im Hinblick auf innerbetriebliche Lagerung, Bereitstellung und Distribution. Just-in-Time- (dann, wenn wir es brauchen) bzw. Just-in-Sequence-Lieferung (in der Reihenfolge, wie wir es beispielsweise zur Montage brauchen) wäre eine Alternative, besonders, wenn es um Produktdifferenzierung und individuelle Ausstattungen geht. Das funktioniert in der Praxis aber nicht immer reibungslos: Allgegenwärtige Lieferverzögerungen bzw. -engpässe bis hin zum -ausfall richten erhebliche Produktionsschäden an. Die Lösung? Ein Balanceakt.
Fielen diese Entscheidungen früher „nach dem Lehrbuch“ oder aus dem persönlich-fachlichen Blickwinkel des zuständigen Vorstands, so brachte die Digitalisierung neue und wirksame Werkzeuge auf den Markt. „Simulationen bzw. Digitale Zwillinge, Big Data Analytics und Machine Learning machen es möglich, konkrete Maßnahmen am Modell durchzuspielen und einen realen Effizienzvorteil zu erarbeiten. Welche Konsequenzen wird es haben, diese oder jene Schritte zu setzen?“ Die Trefferquote sei hoch – auch, weil komplexe stochastische Prozesse hinter der Simulation das Realsystem dynamisch abbilden, „bis hin zur Häufigkeit, in der Mensch oder Maschine ungeplant ausfallen oder sich der Zeitplan nur geringfügig durch Eilaufträge verschiebt“.
Manuel Woschank Stellvertretender Leiter des Lehrstuhls für Industrielogistik an der Montanuniversität Leoben (MUL) Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vortragender, Ansprechpartner für internationale Kooperationen Gastprofessor an der University of Latvia/Lettland 2018–2021 Habilitation in „Industrial Engineering and Management“ (Industriebetriebslehre) an der MUL 2012-2017 Internationales Doktorat (MUL und University of Latvia) in „Management Sciences“ (Abschluss summa cum laude) 2010 Abschluss Master-Studium „International Supply Management“ FH Joanneum Kapfenberg Woschank war auch Karate-Weltmeister (CSIT) und mehrfacher Europameister (EKSA, EGKF)
TECHNIK ALS ALLROUNDLÖSUNG?
Als in den Jahren 2011/2012 das Zukunftskonzept „Industrie 4.0“ erwachte, waren Manuel Woschank und seine Kollegen mittendrin statt nur dabei. Im internationalen, EU-geförderten Forschungsprojekt „SME 4.0“ untersuchte die Montanuniversität Leoben gemeinsam mit einem internationalen Konsortium Konzepte zur Digitalisierung, Vernetzung, und selbstständigen Steuerung der Produktion und Logistik. „Ganz simpel erklärt ging es um die Frage, welche digitalen Technologien und Technologiekonzepte in Produktion und Logistik überhaupt tauglich sind, um letztendlich einen Effizienzvorteil zu erzielen.“ Damals galt das Credo: „Die Technologie wird alle Lösungen bringen.“ Es waren hierbei federführend WirtschaftsingenieurInnen, die inter- und transdisziplinär nach Antworten suchten. Das Konzept griff zu kurz, denn dem Menschen als Schlüsselkraft kam in dieser Denkrichtung nur eine untergeordnete Rolle zu.
„Die Unternehmen hätten
theoretisch Zugang zu
Forschungs-Know-how.
Beim Wissenstransfer in
der Praxis ist aber noch
viel Luft nach oben.“
Manuel Woschank,
Lehrstuhl Industrielogistik MUL
MENSCH UND NATUR
Der aktuelle Nachfolger „Industrie 5.0“ bzw. das Nachfolgeprojekt „SME 5.0“ stellt sich folgerichtig weitblickender auf – ergänzt um die Säulen Nachhaltigkeit und den Faktor Mensch. „Die Industrie muss die EU-Ziele bis 2030 bzw. 2050 ernstnehmen und dekarbonisieren“, mahnt Woschank. Zudem gälte es, MitarbeiterInnen mit ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen ins Zentrum des Denkens zu stellen. „Wie gelingt es, Frauen und Männern in der sich wandelnden Arbeitswelt ein Umfeld zu schaffen, in dem sie ihre Ressourcen bestmöglich einsetzen können? Welche konkreten Änderungen erwarten die ArbeitnehmerInnen, welche Kompetenzen fordert die Zukunft von ihnen, wie sehen die IngenieurInnen von morgen aus?“ Die Forschung in der Industrie 5.0 bringt konsequent interdisziplinäre Teams an einen Tisch: WirtschaftsingenieurInnen und InformatikerInnen, Dekarbonsierungs- und Green-Logistics-ExpertInnen sowie BildungswissenschafterInnen und SoziologInnen. Der Ansatz gewichtet speziell den Bereich der Aus- und Weiterbildung hoch. Woschank: „Künftig geht nichts mehr ohne Lifelong Learning: Nur lebenslanges Lernen befähigt den Menschen, mit der Veränderung dynamisch mitzuwachsen und sich langfristig im Beruf zu verankern.“ In dem EU-geförderten Projekt „EE4M – Engineering Excellence for the Mobility Value Chain“ arbeiten deshalb jeweils vier Länder bzw. Regionen gemeinsam daran, ein sogenanntes „Skills-Ecosystem“ für die IngenieurInnenausbildung der Zukunft aufzubauen. Es soll künftige Arbeitskräfte von den Sekundär-, (Mittelschulen) über die Tertiärstufe (Hochschulen) bis hin zu Lifelong-Learning-Institutionen aus- und weiterbilden. „Wir arbeiten mit wesentlichen Stakeholdern wie dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung oder der Industriellenvereinigung zusammen, entwickeln neue Lehr- und Lernformate und trainieren schließlich auch die Lehrkräfte.“
Lehrstuhl Industrielogistik Als einer der jüngsten Lehrstühle der MUL im Jahr 2002 unter dem Dach des Departments Wirtschaftsund Betriebswissenschaften gegründet. Im Rahmen des Rohstoffzyklus, den die Gesamtheit aller Studienrichtungen der MUL abbildet, steht Industrielogistik für eine fachübergreifende Disziplin, die die einzelnen Disziplinen miteinander verbindet. Der Lehrstuhl kooperiert mit Universitäten im In- und Ausland, darunter Magdeburg, Barcelona, Bologna, Bozen, Riga, Lynköping, Kharkov, Kosice, Ibague (Kolumbien), Chiang Mai (Thailand) und Worcester (USA).
MEHR WISSENSTRANSFER!
Woschank betont die Wichtigkeit globaler Zusammenarbeit in der Logistik. „Es handelt sich mit Sicherheit um ein Stärkefeld des steirischen Standortes, in dem Wirtschaft und Wissenschaft Hand in Hand arbeiten.“ Ein multinationaler Blickwinkel sei aber unabdingbar: „Wir haben eine Vielzahl von Kooperationen mit Forschungseinrichtungen in Deutschland, Schweden, der Slowakei und Italien, in den USA und in Indien, in Thailand, Südamerika, Australien oder Südafrika.“ Zu den steirischen Unternehmenspartnern zählt Prominenz wie Voest Alpine, Knapp AG oder RHI Magnesita sowie eine Vielzahl von regionalen Klein- und Mittelunternehmen, wobei der Lehrstuhl wertvolle Studienergebnisse stets offenlegt: Speziell KMUs hätten sich nur zögerlich auf das Thema eingelassen und haben jetzt viel Aufholbedarf. Woschank appelliert: „Die Unternehmen hätten theoretisch Zugang zu vielseitigem Forschungs-Know-how. Beim Wissenstransfer ist in der Praxis aber noch viel Luft nach oben.“
Fotos: Oliver Wolf