Spirit of Styria

Sendung OHNE MAUS

Im Zeichen der Ethik: Ein interdisziplinäres Team rund um Thomas Birngruber und Petra Kotzbeck vom JOANNEUM RESEARCH HEALTH entwickelt Testmethoden für neue Pharmazeutika. Das im Labor gezüchtete 3D-Gewebe ist dem menschlichen verblüffend ähnlich und ersetzt Tierversuche.

Medizinische Forschung geht uns alle an. Noch fehlt in (zu) vielen Bereichen Wissen; noch gibt es angesichts weitverbreiteter Krankheitsbilder nicht ausreichend wirksame Therapien. Der demographische Wandel verschärft die Problemstellungen: In puncto chronische Wunden etwa stehe das Gesundheitssystem vor einer wahren „Epidemie“, so Thomas Birngruber vom JOANNEUM-RESEARCH-INSTITUT HEALTH. „Immer mehr Menschen leben immer länger. In höherem Alter funktioniert unser Gefäßsystem schlechter. Die Wundheilung verzögert bzw. verlangsamt sich.“ Dazu kommen Zivilisationserkrankungen wie Diabetes und einhergehende chronische entzündliche Prozesse, im Beispielsfall der Diabetische Fuß: eine Wunde, die nicht mehr verheilt. Die Patientinnen und Patienten müssen lernen, mit ihr zu leben. „Die Kosten im Gesundheitssystem für die Behandlung bzw. das In-Schach-Halten dieser Wunden steigen rasant – ein wachsender Markt“.

„Das Management
chronischer Wunden
verursacht zunehmend
hohe Kosten im
Gesundheitssystem.“

THOMAS BIRNGRUBER
STV. DIREKTOR
VON JOANNEUM RESEARCH HEALTH,
LEITER DER FORSCHUNGSGRUPPE
BIOMEDICAL TISSUE MONITORING

ALTERNATIVE ZU MENSCH UND TIER
Um neue Therapeutika und Medizinprodukte zu entwickeln, braucht es verlässliche, international anerkannte Testverfahren. „Für unsere Forschung ist es wichtig, dass wir Studien und Versuche möglichst realitätsnah durchführen. Das bedeutet, dass die untersuchten Zellen – im Fall der Wundheilung Hautzellen – den menschlichen sehr ähneln müssen.“ Derzeit hat die Wissenschaft gleichsam die Wahl zwischen Pest oder Cholera: Immer noch dominieren Tierversuche mit Ratten und Mäusen. Alternativ kommen massiv kosten- und zeitintensive humanklinische Studien in Frage, wobei diese im Anfangsstadium eines Forschungsprojektes häufig nicht zulässig sind. Nicht zuletzt die Regulationsbehörden fordern deshalb weltweit neue Testverfahren, die wasserdichte Studienergebnisse liefern, zugleich aber ethischen und ökonomischen Anforderungen standhalten. „Organ-on-a-chip“ nennt sich ein vielversprechender Lösungsansatz, auf den sich Forsche-rinnen und Forscher dreier Institute des JOANNEUM RESEARCH spezialisiert haben. Birngruber erklärt, dass die Haut aus unterschiedlichen lebenden und toten Zellkomponenten besteht. Den Hauptanteil stellen Keratinozyten; sie bilden die äußere Barriere, die den Organismus vor schädlichen Umwelteinflüssen schützt. „Aus ihnen züchten wir ein 3D-Zellsystem und bringen dann zusätzlich Bindegewebe, Immunzellen und weitere physiologisch relevante Komponenten in die Struktur ein.“ Das Ergebnis ist ein Organ, welches verblüffend ähnlich wie das eines lebenden Menschen reagiert. Die Laborhaut sitzt in einem Plastikgefäß in mikrofluidischen Strukturen, die Blut- und Kapillargefäße nachbilden und so den Gewebestoffwechsel aufrechterhalten – der „Chip“. „Wir führen Wasser und Nährstoffe zu, transportieren Abfallstoffe wieder ab. Diese Abfallstoffe sind zugleich Biomarker: Wenn wir Proben entnehmen, erzählen sie uns eine Geschichte darüber, wie es der Haut geht.“ So testen die Wissenschafter die Gewebereaktion auf Gefahrenstoffe, Nanopartikel, Medikamente und andere Medizinprodukte.

Thomas Birngruber 
ist stellvertretender Direktor von JOANNEUM RESEARCH HEALTH und Leiter der Forschungsgruppe Biomedical Tissue Monitoring. 
Er kommt aus der biomedizinischen Technik, arbeitete und promovierte an der Medizinischen Universität Graz und der Technischen Universität Graz in den Bereichen Neurowissenschaften und Bildgebungstechnologien (MRI). 
Seine Hauptforschungsgebiete sind Pharmakokinetik und Pharmakodynamik, wobei die Anwendungen mittlerweile eine Vielzahl von Organen miteinschließen. 
Thomas Birngruber verfügt über ein starkes Netzwerk sowohl in der akademischen Welt als auch in der pharmazeutischen Industrie.

DER WUND(ER)VERBAND
U. a. der Druck von EMA (Europäische Arzneimittel-Agentur mit Sitz in Amsterdam) und FDA (U.S. Food and Drug Administration mit Sitz in Maryland) treiben die Forschung voran. So schlossen die Behörden kürzlich etwa eine Gesetzeslücke und verschärften die Regulatorien zur Testung von Wundauflagen. „Verbandsmaterialien haben sich in Richtung Medizinprodukte entwickelt, die viel mehr leisten, als nur Schmutz fernzuhalten. Smarte Verbände wirken antiinflammatorisch, keimabtötend und abschwellend. Zugleich liefern sie Informationen über den Zustand der darunterliegenden Wunde.“ Aktive pharmazeutische Zutaten wie Antikörper, Silberoberfläche und dergleichen beeinflussen das Gewebe positiv, während Textilien mit Sensoreffekt etwa die Farbe wechseln, wenn sich der PH-Wert der Haut verändert. So wird ein herkömmlicher Verband fast zum Medikament, jedenfalls aber zum Medizinprodukt, das eine Zulassung verlangt.

Die Biologie ist unberechenbarer als die Technik. Eine 1 muss dort nicht
immer eine 1 sein, sondern auch einmal 0,7 oder 1,2 bedeuten.

THOMAS BIRNGRUBER,
LEITER DER FORSCHUNGSGRUPPE BIOMEDICAL TISSUE MONITORING

Langjährige Erfahrung mit herkömmlichen (Tier-und klinischen) Studien prädestinieren Forscher wie Thomas Birngruber dazu, ethisch und ökonomisch einwandfreie Alternativen zu kreieren. Dabei ziehen drei Player des JOANNEUM RESEARCH bzw. bis zu 60 Menschen an einem (Forschungs-)Strang: Das Institut HEALTH hat in den letzten 25 Jahren umfassendes Know-how in der Unterstützung von Medikamentenentwicklung aufgebaut, was Haut, Stoffwechsel, Muskel und Hirn betrifft. Biologische Expertise und das Handling der 3D-Zellstrukturen kommt vom Institut CORMED, während das Institut MATERIALS die mikrofluidische Expertise liefert. Kürzlich wurden COMET- sowie EU-Förderungsanträge gestellt; weitere Forschungsanlässe liefern Firmenaufträge aller Größen. „Alle im Team von der Top-Wissenschafterin bis zur Laborkraft sind gleichermaßen wichtig. Letztere müssen erstklassig arbeiten, denn sie liefern die Basisdaten für jede wissenschaftliche Erkenntnis. Im JOANNEUM RESEARCH verfügen diese Mitarbeiter oft über jahrzehntelange einschlägige Expertise. Mit unserer geringen Personalfluktuation sind wir im Vorteil gegenüber vielen Universitäten.“

KONZERT DER DISZIPLINEN
Eine Herausforderung stellt – wie so oft in der Wissenschaft – das Upscaling dar, also das Hochskalieren der Methoden auf industrielle Maßstäbe. Daran arbeiten interdisziplinäre Teams, die Professionen wie Biologen, Mediziner, Ingenieure der Sensortechnik oder Mikrofluidik, Kunststoffspezialisten, Elektrotechnikern usw. vereinen. Dabei bergen die Fachjargons so manche Challenge: Denn je nach Herkunftsdisziplin sprechen die Menschen unterschiedliche Sprachen, selbst wenn sie das Gleiche meinen. „Diese Barriere ist nicht zu unterschätzen. Es braucht Leute, die über die Disziplinen hinweg kommunizieren und übersetzen können.“ Menschen wie Thomas Birngruber, der über einen Ingenieurshintergrund verfügt, jedoch seine Karriere an der Schnittstelle von Medizin und (Elektro-)Technik verankert hat. „Nur Platinen löten und Schaltkreise entwickeln war mir zu langweilig. In der Ingenieurskunst ist eine Null immer eine Null, eine Eins verlässlich eine Eins. Die Biologie bildet hingegen ein weniger berechenbares System, da kann 1 auch einmal 0,7 oder 1,2 bedeuten.“ Zugleich stiftet die Medizin den Sinn seiner Arbeit: Unsere Vision lautet, leidende Menschen mit neuen Lösungen zu unterstützen und einen Beitrag zu ihrer Heilung zu leisten. Ich finde, das ist eine starke Motivation und ein schönes Arbeitsumfeld.“
Die Grazer „Organ-on-achip“-Forschung liegt österreich- und europaweit mit an der Spitze.

Fotos: Oliver Wolf

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