Spirit of Styria

Meisterin DER BALANCE

Was haben eine Balletttänzerin und das Stromnetz gemeinsam? Beide benötigen für Höchstleistungen exzellente Balance. Carina Lehmal – Dissertantin, Preisträgerin und staatlich geprüfte Ballerina – arbeitet am Institut für Elektrische Anlagen und Netze der Technischen Universität Graz daran, das Stromnetz im Wandel zu erneuerbaren Energien stabil zu halten.

Lernen Sie Carina Lehmal kennen: Diese Frau steht unter Strom. Wer neben der HTL-Ausbildung sechsmal die Woche für das Ballett-Diplom der Wiener Staatsoper trainiert und währenddessen Chinesisch lernt, um in diesem Fach zu maturieren, hat offensichtlich Talent für den Energiehaushalt. Womit wir beim Thema sind. Carina Lehmal forscht im Zuge ihrer Dissertation an der Stabilität sogenannter Umrichter, die erneuerbare Energiequellen wie Windräder oder Photovoltaikanlagen mit dem Stromnetz verbinden. „Wechselrichter bestehen aus vielen leistungselektronischen Bauteilen, die kleine Störungen im Stromnetz verursachen. Wir untersuchen die Interaktion zwischen den Leitungen, Umrichtern und Schutzelementen wie Sicherungen und stellen uns die Frage, wie man die Bauteile intern kontrollieren und steuern muss, um das Stromnetz möglichst störungsfrei und stabil zu erhalten.“ Am TU-Institut ist Lehmal Teil einer sechsköpfigen Arbeitsgruppe unter der Leitung von Ziqian Zhang.

ALLES STEHT KOPF IM STROMNETZ
Angesichts der Green Transition erfährt das Forschungsfeld aktuell einen Boom, da das Netz heute unzählige neue Umrichter und Spannungsmessungselemente erfordert. Ersteres, weil erneuerbare Energiequellen Gleichstrom produzieren, der für die Einspeisung in die Leitungen in Wechselstrom umgewandelt werden muss. Zweiteres, weil immer mehr kleine, häufig private Kraftwerke die nunmehr über 100-jährige Logik des Stromnetzes auf den Kopf stellen: „Prinzipiell ist es von Vorteil, wenn möglichst viel Leistung regional, also im direkten Umfeld der Verbraucher erzeugt wird, weil sie dann nicht über lange Strecken transportiert werden muss. Und doch ist unser Stromnetz derzeit nicht dafür ausgelegt.“ Denn seit Anfang des 20. Jahrhunderts wird Energie zentral auf Hochspannungsebene erzeugt: Der Strom, den riesige Kohle- oder Wasserkraftwerke produzieren, fließt auf 380 Kilovolt-Spannungshöhe (kV) in die Leitung. Auf seinem Weg durchs Land und in die Ballungszentren wird dieser über Mittelspannung (ca. 1.000 Volt) bis auf Niederspannung von 230 Volt heruntertransformiert. „Es gab bis vor kurzem also EINEN Energiefluss von oben nach unten. Heute jedoch erzeugen Photovoltaikanlagen in Privathäusern Leistung sozusagen auf dem untersten Punkt. Ein Leistungsfluss entsteht nun in zwei Richtungen und es braucht neben Wechselrichtern unzählige kleine Messstellen auf allen Ebenen des Netzes, um Spannung und Frequenz stabil zu halten.“

Mit Interesse kann man jedes Fachgebiet erlernen.
Egal, wie komplex es erscheint.

CARINA LEHMAL,
INSTITUT FÜR ELEKTRISCHE ANLAGEN UND NETZE TU GRAZ

Gerät nur eines der beiden aus dem Gleichgewicht, ist das Gefahrenpotenzial groß: Wenn die Spannung einige Prozent vom erwünschten Wert abweicht, können Leitungen, Netzteile und angeschlossene Verbraucher Schaden nehmen – im Fall von Krankenhäusern oder Industriebetrieben etwa mit verheerenden Auswirkungen. „Auslöser kann schon ein einzelner Baum sein, der auf eine Überlandleitung fällt.“ Lehmals Arbeitsgruppe widmet sich deshalb intensiv allen potenziellen Fehlerquellen und -fällen sowie der Frage, wie Umrichter ideal mit Schutzeinrichtungen „zusammenarbeiten“, ohne jeweils die Funktion des anderen zu beeinträchtigen.

Carina Lehmal
geb. 1997 in Graz 2016
Matura an der HTBLuVA Bulme Graz-Gösting
2021 Master Elektrotechnik an der TU Graz Vierfache Auszeichnung der 
Masterarbeit (u. a. ECSELPreis der FFG und ORF-Technologiepreis)
seitdem Doktoratsstudium Elektrotechnik ebendort
Produktmanagerin beim niederösterreichischen Unternehmen Greenwood Power Auslandsaufenthalte im Rahmen der Ausbildung in China und Polen
Absolventin der Ballettakademie der Oper Graz mit Ablegung der paritätischen Prüfung an der Staatsoper Wien 

DIE HERTZ EUROPAS
Zweiter Stabilitätsfaktor ist die EU-weit gleiche Frequenz von 50 Hertz, die durch das Ausbalancieren von Energieangebot und -nachfrage entsteht. „Stel len Sie sich vor, ein riesiger Windpark im Burgenland speiste aufgrund des günstigen Wetters ungebremst sehr viel Strom ins Netz ein. Durch das Überangebot liefe die Frequenz in ganz Europa Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten, denn die Leitungen sind über den gesamten Kontinent miteinander verbunden.“ Derart könnte temporär hohes Windaufkommen nahe Eisenstadt halb Spanien lahmlegen – wäre da nicht die installierte Steuerungsmechanik und -elektronik sowie Redispatch, mithilfe derer die Netzbetreiber das Leistungsgleichgewicht halten. Viel Zeit zur Korrektur bleibt im Ernstfall nicht: „Schwankungen entstehen mitunter in Sekunden oder gar Millisekunden.“

„Die vielen privaten Kleinkraftwerke bzw. Photovoltaikanlagen sind eine Herausforderung für das
bestehende Stromnetz.

Es ist noch nicht ausreichend darauf ausgerichtet.“

CARINA LEHMAL
INSTITUT FÜR ELEKTRISCHE ANLAGEN
UND NETZE TU GRAZ

WIR LERNEN VOM PIONIER
Aus Fehlern anderer lässt sich trefflich lernen – im konkreten Fall profitieren wir von Deutschland, das als Pionierstaat in die Energiewende ging. Als Norddeutschland vor Jahren die massive (Onshore- und Offshore-) Windkraftoffensive gestartet hat, bedachte es nicht, dass selbst das Ballungszentrum Hamburg die viele Energie nicht konsumieren würde können. „Ähnlich ging es den Bayern mit ihrem massiven Ausbau der Photovoltaik.“ Während unsere Nachbarn nun Tausende Kilometer Leitungen zur Stromdistribution bauen müssen, deren Genehmigung fallweise bis zu zehn Jahre dauert – gewinnt Österreich die Erkenntnis, wie erneuerbare Energieproduzenten sinnvoll im Land zu verteilen sind. Binnen der nächsten sieben Jahre soll ein Drittel des EU-Stroms aus grünen Energiequellen stammen, so die Zielvorgabe.

Nicht zuletzt bringt der Wandel auch zahlreiche Startups hervor; in einem ehemaligen ist Carina Lehmal nebenberuflich als elektrotechnische Fachfrau und Techniksupporterin tätig: Greenwood Power in Brunn am Gebirge entwickelt sogenannte nichtkonventionelle Messtransformatoren für das Mittelspannungsnetz. „Konventionelle Stromwandler wiegen rund 20 Kilogramm bei einer Größe von rund 1×1 Meter“, erklärt Lehmal. „Demgegenüber stehen die Nichtkonventionellen: so groß wie Kaffeehäferl und 500 Gramm leicht.“ Neben rascher, günstiger Herstellung und massiver Platzeinsparung punkten die Produkte mit Umweltfreundlichkeit wie beispielsweise dem viel geringeren Verbrauch des Isolierungsmaterials Epoxidharz, das die Natur ähnlich stark wie Einwegplastik belastet. „Ich schätze diese Praxiserfahrung sehr. Jedes Projekt wird auf den Kunden zugeschnitten. Dabei arbeite ich eng mit dem Salesteam und den Technikern zusammen.“

Zusammenarbeit bereitet der Grazerin schon viele Jahre den Weg: „Ich habe mir sowohl in der HTL, als auch im Studium Menschen gesucht, mit denen ich Arbeitsgruppen gebildet habe. Wir haben uns gegenseitig motiviert, gemeinsam gelernt, den oder die andere je nach Talent und Anlage unterstützt. Ich bin kein Mathematikgenie, aber sehr kompetent in puncto Elektrotechnik. Kollegen von mir hatten entgegengesetzte Stärken.“ Es sei ratsam im Leben, sich auch auf Themen einzulassen, wo Schwächen bestünden, die also nicht nur die vermeintlichen eigenen Stärken widerspiegelten. „Viele Fragen stellen, den Mut haben, Fehler zu machen! Gerade aus Irrwegen entsteht oft die Lösung. Mit Interesse kann man jedes Fachgebiet erlernen, egal wie komplex es erscheint.“

Apropos komplex. Geht Carina Lehmal denn nie die Energie aus? „Nein. Meine Regeneration ist das Ballett – der, wie ich persönlich finde, beste Sport, den man überhaupt ausüben kann. Bist du beim Tanzen unkonzentriert, leidet die Bewegung. Du musst mit dem Kopf ganz im Hier und Jetzt anwesend sein.“ Achtsamkeit – auch ein Geheimnis meisterlicher Balance.

FOTOS: TU GRAZ/JIMMY LUNGHAMMER

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