Was braucht die „Stadt der Zukunft“ in den Bereichen Bauen und Wohnen, Verkehr, Handel und Logistik, um nachhaltiger und attraktiver Lebensraum für ihre Bewohner zu sein? Inwieweit eignet sich Graz als Role Model für erfolgreiche Stadtentwicklung? Über Herausforderungen und Potenziale diskutieren fünf Experten bei uns in der Redaktion am Roundtable.
TALK AM RING ist ein Diskussionsformat von SPIRIT of Styria. Jeden Monat laden wir Expertinnen und Experten zur Diskussion über ein spannendes Wirtschaftsthema an den Runden Tisch in die Redaktion am Grazer Opernring.
Wie lautet Ihre Einschätzung? Taugt Graz als Role Model für die Stadt der Zukunft?
Pucher: Graz eignet sich schon deshalb dafür, weil die Stadtgröße in Europa weit verbreitet ist und weil das auch eine gute Größe ist – übersichtlich, aber nicht zu klein. Zudem haben wir hier vom Grazer Becken übers Bergland bis in die Südsteiermark einen hochwertigen Lebensraum vor uns – einfach eine irrsinnig schöne und fruchtbare Landschaft, die nicht viele Städte so haben. Ein Umfeld mit tollen Freizeitmöglichkeiten und der Chance einer nachhaltigen, regionalen Versorgung. Diese Lage lässt uns auch die Klimaveränderungen etwas besser ertragen als viele andere Städte – das heißt, die Basis für Graz ist prinzipiell sehr gut.
Ein paar Dinge muss man sich aber genauer anschauen. Zum Beispiel ist in Graz in den vergangenen zwanzig Jahren einfach zu viel Immobilien-Development passiert, auf das wir nicht wirklich vorbereitet waren. Dabei haben die einen – die Developer – das nicht immer, aber sehr oft als reines Businessmodell betrieben, während die anderen – Politik, Planer und Bevölkerung – zu lange dachten, dass es sich einzig um die Entwicklung von Lebensraum handeln müsse. Man hat dadurch viel zu lange gebraucht, bis man verstanden hat, dass die beiden Mindsets so nicht kompatibel sind. In der Zwischenzeit wurden betonierte Fakten geschaffen und die Frage ist nun: Gibt es überhaupt noch genug Platz, um so gestalten zu können, dass Graz aktives Role Model sein kann?
Inninger: Diesen Platz gibt es jedenfalls, wenn wir den Spielraum qualitativ denken. Seit Jahren gibt es keine flächenmäßige Ausweitung des Siedlungsraums mehr in Graz. Dass viele Flächen bereits bebaut sind, bedeutet aber nicht, dass wir keinen Spielraum hätten. In Zukunft wird der Neubau mehr in den Hintergrund treten. Stattdessen wollen wir weiterentwickeln, nach-verdichten, Qualitäten schärfen. Das geht am bestenauf Grundlage eines breiten Konsenses in der Stadt. Wir haben in den vergangenen Jahren einen teils toxischen Diskurs in der Politik und der Öffentlichkeit erlebt. Wir müssen viel mehr über Qualitäten reden. Denn, wenn die Qualität nicht passt, dann ist wenig schon zu viel.
Heissenberger: Die Qualität in der Innenstadt ist jedenfalls hoch. Für uns Innenstadthändler sind die drei großen A entscheidend: Ambiente, Anfahrt und Angebot. Wir hinterfragen ständig, was wir positiv beeinflussen können. Für Ambiente und Angebot müssen wir selbst sorgen. Bei der Anfahrt muss uns die Stadt helfen. Ein Riesenprojekt wurde mit der Innenstadtentflechtung und der neuen Straßenbahnführung über die Neutorgasse ja gerade gestartet – meines Erachtens ist das absolut notwendig, die Pläne dazu gibt es seit Langem. Dass die Neutorgasse nun drei Jahre unbefahrbar sein wird, ist für die Inhaber der Geschäfte aber sehr herausfordernd. Wir hatten 2017 selbst eine Baustelle in der Stempfergasse und dadurch ein Umsatzminus von 30 bis 40 Prozent. Drei Jahre sind wahnsinnig schwer zu überstehen. Es ist ja nicht nur die Anfahrt, sondern auch Lärm, Staub etc. Dennoch: Das Projekt gehört gemacht. Ich kann nur hoffen, dass die Stammkunden ihren Geschäften die Treue halten.
DIE TEILNEHMER
Thomas Pucher
Architekt, Atelier Thomas Pucher
Stefan Heissenberger
Inhaber Delikatessen Frankowitsch,
Vorstand „Echt Graz“
Andreas Miller
Principal Strategic Project
Manager, Knapp AG
Bernhard Inninger
Leiter Stadtplanungsamt Graz
Harald Martich
Lizenznehmer und Geschäftsführer
Engel & Völkers Graz
Wie zufrieden sind Sie mit der Erreichbarkeit generell?
Heissenberger: Jede Stadt hat ja das gleiche Problem: Fachmarkt- oder Einkaufszentren vor oder teils in der Stadt haben eine bessere Erreichbarkeit als die Innenstadt, wo Parkplatzstreichungen ein Dauerthema sind. Der Ausbau von Tiefgaragen könnte Abhilfe schaffen, Kastner&Öhler hat es ja vorgelebt. Das vor Jahren angedachte Projekt Andreas-Hofer-Platz wurde leider nie realisiert. Auch der Kaiser-Josef-Platz ist für mich eine vergebene Chance. Im Zuge seines Umbaus hätte man durchaus eine Tiefgarage errichten können. Eine Riesenchance wäre die Schaffung einer neuen Tiefgarage in der Innenstadt, die die Stadt Graz gemeinsam mit den Kaufleuten finanziert, um günstige Parkmöglichkeiten zu sichern. Für solche Projekte braucht es einen Masterplan und die Bereitschaft, groß zu denken. Die meisten unserer 70 Mitarbeiter kommen fast ausnahmslos mit den Öffis in die Stadt und ich persönlich liebe das Rad und hoffe auf einen weiteren Ausbau des Radnetzes, der in der Vergangenheit eher schleppend voranging, aber generell müssen Kunden und Touristen auch mit dem Auto in die Stadt kommen können. Die Innenstadt macht 40 bis 50 % des Umsatzes mit dem Umland. Die Leute kommen nicht nur mit den Öffis herein, vor allem, wenn sie Einkäufe transportieren. Daher denke ich, das Bild des ,bösen‘ Autos sollte etwas geradegerückt werden – Schwarz-Weiß-Denken hilft uns nicht weiter.
Miller: Anfahrt und Mobilität sind ganz entscheidende Themen, daher müssen wir es schaffen, die Peripherie besser zu lenken. Der Megatrend Urbanisierung macht ja nicht an der Stadtmauer Halt. Es lohnt sich, über den Tellerrand hinauszublicken. Wir sprechen hierzulande zwar nicht von Mega-Cities, aber sollten stets die gesamte Steiermark im Blick haben und damit die fortschreitende regionale Urbanisierung – siehe den Zuzug in die Umlandgemeinden von Graz. Damit wird die Peripherie immer wichtiger für Graz, unterstützt von der Digitalisierung, aber auch durch E-Commerce. Homeoffice nimmt zu, gerade MINTArbeiter zieht es raus aufs Land. Dennoch wollen die Leute Kultur, Ambiente und in der Stadt flanieren. Die Planungsgrenzen hören leider viel zu häufig an der Stadtgrenze auf, aber wir müssen die Anbindung nach außen schaffen, die Öffnung der Stadt forcieren und damit die Peripherie viel stärker einbinden als heute. Region und Stadt sind nicht mehr zu trennen. Wir müssen die Leute in Austausch bringen. Eine Stadt steht ja für den Austausch innerhalb der Communitys und die Möglichkeit, Communitys zu vernetzen. Am Land funktioniert das weniger gut, d.h. für Menschen, die den kulturellen Austausch leben, ist die Stadt die zentrale Anlaufstelle.
Was braucht es, damit diese Entwicklung gelingt?
Miller: Bei einer Stadt müssen wir immer die wichtigsten Ströme mitdenken – Personenströme, aber auch Warenströme. Nicht zufällig, befinden sich die großen E-Commerce-Lager heute ganz nah an den Städten – wegen der hohen Convenience-Anforderungen der Online-Shopper. Es braucht diese kurzen Wege. Dieser Trend pusht – nebenbei bemerkt – auch den Know-how-Cluster im Bereich Logistik in Graz. Beim Management der Warenströme wird es künftig neue, bessere Lösungen geben. Das Thema Parken in zweiter Reihe, damit Zusteller ihre Pakete ausliefern können, werden wir nur durch innovative Logistik lösen. Eine spannende Zukunftslösung sind Micro-Hubs in der City, stationäre Sammelpunkte für Pakete in Innenstadtlage, die von außen von der Peripherie gemeinsam beliefert werden und eine möglichst zentrale Verteilung ermöglichen. Und ganz wichtig: Wir müssen auch die „Geistesströme“ lenken. Wir sind eine Vorzeigeregion mit unserer Lebensqualität und unseren erfolgreichen Clustern, ob Automotive, Green-Tech oder auch der Styrian Service Cluster. Damit sind wir bereits ein weltweites Role Model. Auch die Logistik-Branche hat hierzulande ein unglaubliches Know-how-Zentrum rund um Automation und Lagerlogistik geschaffen. Das sehen auch die Expats so, die zu uns kommen – die die guten Weine in der Südsteiermark ebenso genießen wie das Skifahren in Schladming. Daher ist Graz ein idealer Spot, um hier zu leben und die smarten Geister anzuziehen, die uns weiterbringen.
Inninger: Wir sind heute an einem Punkt, wo wir spüren, dass relativ viel Veränderung passieren muss – in vielen Bereichen. Die Stadt ist dabei Teil der Lösung, nicht Teil des Problems. Wir werden, wenn wir die Herausforderungen erfolgreich meistern wollen, sie zuerst in den Städten lösen. Graz hat vieles richtig gemacht. Ich durfte hier in den 90ern studieren, wir waren damals 30.000 Studierende, heute sind es über 60.000 – und auf Bildung zu setzen, war sicher weitblickend und richtig. Andere Themen haben sich weniger vorbildlich entwickelt. Beispielsweise fördert die aktuelle Gesetzgebung das Denken in Gemeindegrenzen und behindert das notwendige regionale Denken – viele Herausforderungen lassen sich aber nur regional bzw. überregional lösen. Da sind uns andere Länder wie z. B. Südtirol voraus. Unser Vorteil ist sicher die Größe der Stadt, die Möglichkeit, vieles fußläufig oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Im innerstädtischen Verkehr braucht es nur einen geringen Autoanteil – das wird jeder unterschreiben. Beim Pendlerverkehr bzw. Nahverkehr hinken wir seit Jahrzehnten hinterher. Daher bin ich sehr froh, dass der Ausbau der S-Bahn in Graz als längerfristiges Ziel nun außer Streit gestellt wurde. Aber vom Planen von Schienenausbauprojekten bis zur Umsetzung vergehen viele Jahre. Bis dahin haben wir im stadtgrenzenüberschreitenden Verkehr einen Autoanteil von 85 % – das ist zu viel und enorm belastend. Parallel braucht es viele Maßnahmen wie Park & Ride an der Stadtgrenze und vor allem an den S-Bahnhöfen außerhalb. Wir kommen aber nicht weiter, wenn wir uns den Themen allzu ideologisch nähern. Es gibt nicht das „böse Auto“ oder den „bösen Immobilien-Investor“. Gut-Böse-Denken hilft uns nicht weiter – wir müssen die Phänomene verstehen, dann können wir sie regeln. Wenn wir anfangen, die Dinge differenzierter zu betrachten, finden wir auch Lösungen.
Martich: In vielen Punkten sind wir schon Role Model, wenn ich das international vergleiche. Vor allem mit unserem Cluster-Denken, da gibt es ein starkes, gemeinschaftliches Auftreten mit einem Pool an Geistesströmen – das funktioniert wunderbar. Ich persönlich denke bei Graz nie an ein Gebiet innerhalb scharfer Grenzen, sondern sehe immer die Grazer Metropolregion bzw. das Grazer Becken als Gesamtheit. Wir haben hier, wie bereits erwähnt, eine Lebensqualität, die man in Europa ganz selten findet. Ob jemand in die Stadt rein- oder ins Umland rauszieht ist irrelevant, entscheidend ist der große Zuzug ins Grazer Becken. Ich stimme zu: Die Stadt bzw. die Innenstadt muss jedenfalls erreichbar sein – egal, ob mit „bösem Auto“ oder der „guten“ S-Bahn. Wenn man eine belebte Stadt haben will, müssen die Menschen hereinkommen können, auf welche Art auch immer. Daher sollten alle Verantwortlichen aufeinander zugehen und die Ideologie komplett beiseitelassen – absolut richtig. Die Studenten, die Ausbildungsmöglichkeiten, das menschliche Potenzial in der Stadt – das wurde bereits angesprochen. Dadurch haben wir so viele Chancen, die enorme Vorteile bringen, die wir auch weiterhin nützen müssen. Solche Initiativen wie die Runde heute sind extrem wichtig, weil sich Menschen austauschen und den einen oder anderen Anstoß geben können. Etwas Ähnliches ist in Berlin passiert, wo aus einer privaten Initiative heraus einiges gelang.
Wie ist das in Berlin gelungen?
Martich: Es geht um die Belebung der City West, des Ku’damms, der viele Jahre praktisch tot war – ausgehend von einer privaten Initiative, der Arbeitsgemeinschaft AG City West. Dort haben sich ein paar Kaufleute zusammengetan, erst mal nur Unternehmer, erst später kam die Politik hinzu – es wurden Ideen entwickelt und diese konsequent umgesetzt. Mittlerweile ist der Ku’damm wieder das, was er früher einmal war. Diese AG City West hat auch bei der Entwicklung des Goldenen Dreiecks in Wien beraten, wodurch es zu einer Belebung kam. Ich glaube, dass es mehr Initiativen dieser Art braucht. Der Chef der AG City West ist ein guter Freund von mir und kommt gerne auch einmal nach Graz. Bei einem guten Glas Wein wäre er sicher nicht abgeneigt, über seine Erfahrungen zu plaudern.
Heissenberger: Gerne, dafür sind wir sehr offen. Generell können wir uns glücklich schätzen, dass wir in der Stadt einen Kastner&Öhler haben, ein wahrer Magnet inklusive Tiefgarage. Aber der eine oder andere Ankermieter würde uns sicher noch guttun. Daher vermisse ich das, was ein klassisches Einkaufscenter in der Regel hat: ein Management, das aktiv nach Ankermietern Ausschau hält. Platz hätten wir ja in der Innenstadt, immer wieder werden Flächen frei. Es wäre schön, wenn wir in Graz jemanden hätten, der sich überlegt: Wen holen wir rein, was fehlt im Branchenmix? Vielleicht eine Marke aus dem Bereich Home-Store im gehobenen, nachhaltigen Segment, wie wir es in der Wiener Innenstadt finden. Attraktive Geschäfte am Puls der Zeit bringen Frequenz. Es gibt ja viele tolle Beispiele dafür, was wir schon geschafft haben. Nehmen wir die Kaiserfeldgasse her, da hat sich wirklich was getan. Die Seitengassen funktionieren im Wesentlichen, aber im Kern rund um Herrengasse, Hauptplatz und Jakominiplatz sehe ich noch Potenzial.
Inninger: Die oft totgesagte Innenstadt ist überhaupt nicht tot. In der Herrengasse sind heute jeden Tag so viele Leute unterwegs wie früher an einem Einkaufssamstag. Zudem kann ich nicht oft genug betonen, welche Chancen uns die bereits in Angriff genommene Innenstadtentflechtung künftig bieten wird. Das ist vielen noch gar nicht bewusst. Das Projekt Neutor-Viertel ist die größte Innenstadterweiterung seit Jahrzehnten. Die Neutorgasse wird ein zweiter Boulevard. Dadurch erweitert sich unsere Fußgängerzone, unser Innenstadtbereich, der ja heute gefühlt mit der Schmiedgasse endet, bis an die Mur. Die Frage ist, ob wir irgendwann auch so mutig sind, an der Mur den Autoverkehr wegzunehmen, um nach dem Vorbild Ljubljana das Promenieren am Fluss zu ermöglichen. Dann hätten wir direkt an der Mur eine Erdgeschoßzone, die belebt wäre mit Gastgärten und hoher Aufenthaltsqualität – ein epochaler Schritt.
Martich: Wenn es tatsächlich gelänge, den Straßenverkehr an der Mur über einen Tunnel zu führen, dann hätten wir dort wirklich eine Promenade, die Ihresgleichen sucht.
Inninger: Es wird ähnlich wie in Wien sein: Innerhalb der Gürtelstraßen wird man irgendwann nicht mehr mit dem Auto hineinfahren. Wichtig bleibt die Erreichbarkeit. Für Betriebe muss gewährleistet sein, dass die Ware hineinkommt und wieder zum Kunden nachhause kommt – da kann man aber auch organisatorisch viel lösen. Daher sind die City-Logistik-Projekte so wichtig. Man kann auch von woanders lernen. In Ljubljana z. B. gibt es ein sogenanntes Kavalier-System in der FuZo. Dort stehen Elektro-Caddys für Ältere, Körperbehinderte oder Menschen, die Waren zu transportieren haben, zur Verfügung – diese können jederzeit kostenlos angefordert werden. Zur Verfügung gestellt als Service der Stadt. Eine smarte Maßnahme – denn man kann nicht alles baulich lösen.
Heissenberger: Unser Betrieb verschickt selbst ja auch sehr viele Brötchen täglich – dabei haben wir komplett von Taxi auf Fahrradkurier umgestellt. Dafür haben wir ein junges Unternehmen gefunden, das mit uns mitgewachsen ist. Das kann vielleicht nicht jeder machen. Aber solche Dienste wie beschrieben sind natürlich interessant, gerade auch für Private – ob für Ein-kauf oder Arztbesuch.
Miller: Unser Unternehmen ist in die Strategieprozesse von Retailern weltweit eingebunden und da sehen wir den Trend, dass Retailer, und vor allem Food Retailer, immer stärker auf den Erlebnisfaktor setzen. Offensichtlich wird dieser Trend auch beim schwedischen Möbelhaus mitten in Wien oder den ganzen Home-Stores, die jetzt vermehrt wieder in die Innenstadt ziehen und auf Ankerflächen zum Flanieren laden. Durch Corona hat E-Commerce einen großen Sprung erlebt – und E-Commerce nimmt weiter zu. Im ersten Moment widersprüchlich, aber wahr: Das ist eine Riesenchance für den stationären Handel! Jeder kleine Händler hat das Potenzial, E-Commerce zu betreiben und damit den Service, den man von ihm gewohnt ist, mit dem Nutzen von E-Commerce zu verbinden – sprich, man lässt sich die Ware nachhause liefern. Stationär und online werden verschmelzen. Wenn man das zusammenbringt, schafft man eine ganz andere Kundenbeziehung und eine neue Art der Markenbindung – auch eine Riesenchance für die Grazer Innenstadt. Diese hohe Erlebnisqualität, die es ja schon gibt, in Verbindung mit digitaler Convenience – darin liegt die Zukunft.
Zurück zur Stadtentwicklung: Vielen passieren die Veränderungen zu langsam.
Inninger: Das kann ich verstehen, es geht mir genauso. Der Leidensdruck ist groß und die Politik ist prinzipiell bereit, etwas zu tun. In Summe sind Riesenprojekte geplant, die eine Menge Geld kosten – siehe das neue S-Bahn Konzept, das dauert aber alles seine Zeit von der Genehmigung bis zur Umsetzung. Denn für die Errichtung der Park&Ride-Anlagen bei den S-Bahnhöfen ist das Land oder die ÖBB Bauherr. Entsprechend muss verhandelt werden, es braucht Geld aus Landesmitteln bzw. vom Bund. Neue P&R-Anlagen sind auch in der Stadt in Vorbereitung, manche werden vergrößert. Ein gutes Zeichen, P&R wird angenommen – daher gehört nachgebessert. Beim Thema ÖV habe ich den Eindruck, dass es keine Appelle mehr braucht, damit die Menschen umsteigen. Vielmehr müssen wir uns anstrengen, dass der Ausbau der Kapazitäten mit der Nachfrage Schritt hält.
Pucher: Dann müssen wir nur noch sicherstellen, dass, wenn ich mit dem Zug in der Stadt ankomme, auch die letzte Strecke bis zur Final Destination gut funktioniert. Das ist leider nicht immer der Fall, hier wird das unterirdische S-Bahn-System jedenfalls eine Lösung bringen. Übrigens: Ähnlich große Städte wie Graz gibt es auch in der Schweiz. Und da kann man sich alle diese Bereiche anschauen, dort funktioniert es einfach besser. Klar, die Schweiz ist wohlhabender, aber sie haben auch viel früher mit den Investitionen angefangen.
Inninger: In der Schweiz kann es sein, dass man erst einmal ein paar Jahre mit der Öffentlichkeit diskutiert, dann zwei Volksabstimmungen abhält, ob man das Projekt überhaupt will. Die Dinge dürfen dort Geld kosten, aber auch Zeit dauern. Etwas, das unserem Bekenntnis für Qualität grundsätzlich entspricht.
Pucher: Wir haben eine wunderschöne Altstadt in Graz. Aber wenn man in St. Gallen durch die Altstadt geht, sieht man, die ist nicht nur schön, sondern gleich noch auf Hochglanz poliert. (lacht) Das ist ein anderes Niveau und wir sind in einer anderen Position. Aber das, was wir an Gebautem in unserer Landschaft sehen, ist immer auch das Abbild unseres Gesellschafts- und Wertesystems. Wer wir sind, das stellt sich in der gebauten Umwelt dar. Die Schweiz hat ein höheres Diskursniveau, das muss man neidlos anerkennen. Es wird lange und unglaublich viel diskutiert, danach aber abgestimmt – und dann wird das Ergebnis auch akzeptiert.
Inninger: In der Schweiz gibt es eine andere Art von Verständnis fürs Gemeinwesen. Der Schweizer versteht seinen Staat als seine Firma, an dem er Anteile hält. Während das Selbstverständnis des Österreichers kulturell noch von der Monarchie geprägt ist: Ich bin ein kleiner Bürger und da oben ist das große Imperium. Und wenn ich es geschafft habe, dem Imperium ein Schnippchen zu schlagen und z.B. Steuern zu sparen, dann freue ich mich diebisch.
Martich: Dennoch bietet unsere Mentalität auch einen Pluspunkt: Ich meine den typischen Nationalstolz der Steirer. Damit sind wir den Deutschen voraus, weil er ihnen aus historischen Gründen abgesprochen wird. Hierzulande dürfen wir ihn haben. Ich denke, dass man diese Zugehörigkeit zum Land mehr ausspielen sollte – der Stolz auf das Land, in dem wir leben. Einhergehend damit, dass jedem bewusst ist, dass er dafür auch etwas leistet. Wenn ich mir Dänemark anschaue – die haben die höchsten Steuern, aber sind das glücklichste Volk. Die haben dieses Denken bereits: Ich gebe etwas, dafür bekomme ich auch was. Ich möchte noch einmal kurz auf die Erreichbarkeit zu sprechen kommen. Denn zu einer Stadt der Zukunft gehört auch eine nachhaltige Mobilität – und damit E-Mobilität. Unsere Firma hat derzeit ein E-Auto im Betrieb. Allerdings haben wir das Problem, es in der Innenstadt kaum irgendwo laden zu können. Die einzigen Ladesäulen in der Nähe unserer Büros am Joanneumring fielen der aktuellen Baustelle zum Opfer. Daher sind wir gezwungen, das Auto jetzt zu verkaufen – das ist schade! Auch an meiner Wohnadresse Reininghaus gibt es übrigens nur Ladesäulen für TIM-Carsharing, aber keine für die Öffentlichkeit. Daher sage ich: Toll, dass die E-Mobilität überall propagiert wird, aber in der Infrastruktur haben wir noch enormen Aufholbedarf. Wenn die Erreichbarkeit nicht gegeben ist, dann müssen wir raus aus der Innenstadt und uns wohl oder übel in einem Büroturm außerhalb einmieten.
Miller: Ich bin heute auch mit dem E-Auto in die Stadt gefahren und habe lange gesucht, um eine Ladestation in fußläufiger Nähe zu finden. Es gibt eindeutig zu wenig. Dabei hat die E-Mobilität eine Riesenpotenzial – vor allem die junge Generation möchte umsteigen. Die nachkommende Generation tickt ohnehin anders. Das heißt für uns: Bei allem, was wir vorhaben, müssen wir bereits zwei oder drei Generationen vorausplanen!
Heissenberger: Deshalb wäre auch eine neue Tiefgarage eine große Chance, weil wir dann viele neue Ladestationen schaffen könnten. Mit dem Ende des Verbrenners wird es zu einem Boom kommen – auch wenn es noch ein paar Jahre dauert, aber wir dürfen das nicht verschlafen.
Miller: Die fehlenden Netzkapazitäten in der Stadt sind sicher ein großes Problem für den Ausbau der E-Mobilität, ja generell für die zukünftig notwendige Infrastruktur – ein Problem, das wir in vielen Städten Europas kennen, ganz massiv etwa in London. Da sind wir hierzulande noch besser dran, müssen aber mit Nachdruck daran arbeiten – wir brauchen den Strom auch für die zunehmende Automation in der Stadt, für die Hubs und Micro-Hubs, die wir künftig in der Logistik haben werden, um die Warenströme besser bündeln und verteilen zu können.
Ihr Resümee?
Pucher: Grundsätzlich sind wir uns einig: Es geht nicht um die Stadt Graz, sondern um die Region, wobei diese Region im Grunde die Steiermark darstellt – von Radkersburg bis nach Schladming. Wenn man das mit einer Portion Heimatstolz oder Steirerstolz verknüpft, haben wir uns schon mal gut positioniert. Wir reden hier ja von einem gemeinsamen Projekt – eines, das sich über Jahrzehnte erstreckt und nie ganz abgeschlossen sein wird, weil es sich weiterentwickelt. Ich bin überzeugt, wir kommen als Gesellschaft nur weiter, wenn wir uns nicht weiterhin bei Detailthemen stur gegenüberstehen. Wir müssen es schaffen – bei aller Komplexität – die großen Linien gemeinsam zu entwickeln und darüber einen breiten Konsens finden. Ich glaube auch, man bräuchte nicht allzu viel selbst erfinden, weil es ohnehin für fast jeden Bereich schon Role Models gibt – siehe das Beispiel Ljubljana. Man muss aber bereit sein, ein bisschen outside of the box zu denken und auch mal den eigenen Standpunkt wechseln zu können. Wenn wir am Anfang festgestellt haben, dass die Stadt ein Pool von Ideen ist, dann heißt das auch, dass jede Stadt gefordert ist, auf ihren Pool von klugen Köpfen zuzugreifen und diese Ideen und dieses Wissen – in moderierter Form – letztlich zu nutzen. Es gibt ja so viele coole Köpfe in dieser Region, nicht nur regionale, auch internationale. Und ich meine, dass die meisten davon unglaublich stolz wären, in so ein Projekt einzusteigen und damit einen Beitrag für die Zukunft zu leisten. Die aktuelle Frage für Graz lautet also: Wie schafft es die Stadt, die alle ins Boot zu holen und das absolut Beste herauszuholen – für sich und die Region?
Miller: Dabei sollten wir noch mehr über die Entwicklung eines Regionalclusters nachdenken. Wichtig wäre ein interdisziplinärer Zugang, ein breit aufgestellter Thinktank, der von unterschiedlichen Perspektiven profitiert. Ganz wichtig ist, dass wir – wie bereits gesagt – rauskommen aus diesem Schwarz-Weiß-Denken, aus dem politischen Ortsgrenzen-Hickhack. Deswegen finde ich, dass nicht primär die Politik gefragt ist, sondern, dass Menschen aus Wirtschaft, Bildung und Architektur aktiv werden müssten und so eine regionale Vision entsteht, an der die steirische Politik überparteilich und langfristig festhalten könnte.
Inninger: Die Politik sollte in solche Prozesse durchaus eingebunden sein, da sie letztlich die Entscheidungen trifft und – ganz wesentlich – als Einzige auch legitimiert ist, das zu tun. In den Regierungsprogrammen der jetzigen Grazer Stadtregierung ist jedenfalls mehr von Teilhabe, Diskurs und Beteiligung die Rede als in anderen Regierungsprogrammen davor – das muss man objektiv sagen.
Martich: Bei der Politik hat man das Problem, dass die Entscheidungsträger auch wieder relativ schnell weg sein können. Und bei gewissen Ideen braucht man einen langen Atem – siehe das Beispiel Rotterdam, wo man über 30 Jahre lang das Fahrradnetz entwickelt hat. Egal, welche Regierung an der Macht war, hat man an dem Plan festgehalten, weil man irgendwann gesagt hat, das ist eine gute Idee, das ziehen wir durch. Daher muss man weg von der Parteipolitik, weg von der Klientelpolitik, sondern sich in eine Richtung bewegen, wo man sich darüber verständigt, was wirklich gut ist für eine Stadt.
Inninger: Für uns in der Stadtentwicklung ist das Tagesgeschäft. Wir brauchen fast für alle großen Entscheidungen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Grazer Gemeinderat. Unsere Strategiepapiere gelten für 15 Jahre, das sind mehrere Regierungsperioden. Wir haben eine bunte Parteienlandschaft und ich kann nur umsetzen, was alle mittragen, damit es nach der nächsten und übernächsten Wahl auch noch mitgetragen wird. Was wir sicher brauchen, ist ein öffentlicher Diskurs über Raumentwicklungsthemen. Wir haben seit Jahrzehnten in der Steiermark kaum Politiker auf Landesebene, die Planungsfragen thematisieren. Der öffentliche Diskurs ist ein großer Wert an sich. Lasst uns den Gedankenaustausch fortsetzen!
Fotos: ISTOCK, OLIVER WOLF