Spirit of Styria

“BITTERE PILLE” MEDIKAMENTEN-MANGEL: Lösungen gegen die Knappheit

Welche (neuen) Strategien braucht es in Produktion und Logistik, um die Versorgung mit pharmazeutischen Produkten nachhaltig zu sichern? Welche Rahmenbedingungen auf nationalstaatlicher bzw. EU-Ebene sind dafür nötig? Und welchen Beitrag können Wissenschaft und Forschung leisten? Experten diskutieren im SPIRIT-Talk am Roundtable über ein drängendes Thema.
Angeregte Diskussion über Lösungen gegen den Medikamentenmangel
in den Räumlichkeiten von „SPIRIT of Styria“ mit Herausgeber
Siegmund Birnstingl und CR Wolfgang Schober
TALK AM RING 
ist ein Diskussionsformat
von SPIRIT of Styria. Jeden Monat laden
wir Expertinnen und Experten zur Diskussion über ein spannendes Wirtschaftsthema an den Runden Tisch in die Redaktion am Grazer Opernring. 

Wo sehen Sie die Hauptursache für den Mangel und worin den dringendsten Handlungsbedarf?Herzog: In der Wintersaison hatten wir es mit einer tückischen Kombination mehrerer Faktoren zu tun. Eine extreme Grippewelle, ein zusätzlicher RS-Virus und ein generell geschwächtes Immunsystem der Bevölkerung – das alles hat die Nachfrage nach Arzneimitteln dramatisch erhöht und damit speziell bei Fiebersenkungs- und Erkältungsmitteln unsere Industrie sowie Großhandel und Apotheken vor gewaltige Herausforderungen gestellt. Eine Situation, die trotz aller Prognosemodelle nicht vorhersehbar war. Darüber hinaus wirft der Engpass ein Licht auf ein chronisches Grundproblem in der Versorgung: die zu geringen Preise. Wir alle in der „Nahrungskette“ – Apotheken, Großhandel und Hersteller – sind seit Jahren gefordert, dieses Problem irgendwie auszubalancieren.

Von Lieferengpässen sind ausschließlich Produkte im unteren Preissegment betroffen. Im höherpreisigen Segment, etwa bei innovativen Krebstherapien, gibt es keinen Mangel. Seit Jahren fordern wir von der Politik, dass wir die Preise im niedrigen Segment an die Inflationsrate anpassen können – denn das dürfen wir nicht. In Zeiten mit 2-3 % Inflation ist das kein Thema, aber bei 10 % sehr wohl. Den Firmen rennen die Produktionskosten davon, ob bei Energie- und Rohstoffen oder bei Verpackungskarton und Fläschchen. Für die Herstellung dieser Produkte muss scharf kalkuliert werden und bei Arzneien, die um 1, 2 oder 3 Euro auf den österreichischen Markt kommen müssen, geht sich die Rechnung einfach nicht mehr aus.

Künsberg Sarre: Der Großhandel hat dasselbe Problem. Wir von Herba Chemosan betreiben eine kostenintensive Hochleistungslogistik mit temperaturgeführten Waren und höchsten Standards, wir liefern täglich mehrmals an die Apotheken aus – und bekommen für eine Medikamentenpackung weniger, als der Versand eines Briefs in Österreich kostet. Das Hauptproblem: Der Dachverband der Sozialversicherungsträger vereinbart mit den Pharma-Herstellern ein Preisband, wodurch die Preise kontinuierlich nach unten gehen. Auch unsere Vergütung hängt am staatlich festgelegten Preis. Die Spanne, die wir bekommen, wurde im Jahr 2004 festgelegt und seither nie valorisiert. Bei Produkten im untersten Preissegment liegt diese bei wenigen Cent – rein aus betriebswirtschaftlicher Sicht dürfte ich diese längst nicht mehr liefern. In Zeiten normaler Inflation geht sich das Ganze über die Mischkalkulation aus, aber nicht bei den aktuellen Preissteigerungen. Wir hatten allein bei den Transportkosten seit 2004 eine Indexsteigerung von 75 %, die Gesamtinflation stieg um 65 % – und wir bekommen heute 20 Jahre später immer noch dieselbe Remuneration. Das heißt, das Preisthema ist sicher entscheidend, wenn wir die Versorgungssicherheit gewährleisten wollen. Darüber hinaus sehe ich zwei Handlungsebenen – eine operative und eine strategische.

DIE TEILNEHMER

Alexandra Fuchsbichler
Präsidentin Apothekerkammer Steiermark, Inhaberin der Apotheke Krems in Voitsberg

Thomas Erkinger
Geschäftsführer der Sanochemia Pharmazeutika in Neufeld an der Leitha, Hersteller von Kontrast-mitteln sowie Wirkstoffen (Teil der EOSS Industries mit Sitz in Graz)

Alexander Herzog
Generalsekretär PHARMIG, Interessenvertretung der österreichischen pharmazeutischen Industrie mit 126 Mitgliedsbetrieben

Johannes Khinast
Professor der TU Graz und CEO des RCPE (Research Center Pharmaceutical Engineering GmbH), weltweit führendes Forschungszentrum im Bereich der pharma-zeutischen Prozess- und Produktentwicklung

Maximilian von Künsberg Sarre
Finanzvorstand der Herba Chemosan, mit rund 45 % Marktanteil in Österreich führend im Pharma-Groß- handel, 1,7 Mrd. Euro Umsatz

Welche sind das?
Künsberg Sarre: Kurzfristig sollten wir über eine Bevorratung reden und damit Sicherheitsbestände der wichtigsten Präparate auf jeder Handelsstufe vorhalten. Damit könnten wir, wenn es wieder zu einer Verkettung ungünstiger Umstände kommt, entsprechend reagieren. Die strategische Maßnahme betrifft die geopolitische Dimension. Als Folge der Globalisierung wird dort produziert, wo es die niedrigsten Kosten bzw. Löhne gibt – im asiatischen Raum. Ich habe schon vor dem Ukraine-Krieg gesagt: Die Abhängigkeit von Antibiotika aus China und Indien ist höher als jene vom russischen Gas. Ich möchte nicht wissen, was sich abspielt, wenn einmal ein bakterielles Geschehen großflächig in China auftritt oder sich die Dinge geopolitisch ungünstig entwickeln. Darauf sind wir derzeit nicht vorbereitet.

Khinast: Das kann ich nur unterstreichen. Die Preise sind sicher ein großes Thema. Wenn man in den USA in einer Apotheke Antibiotika kauft, dann sieht man dort ein ganz anderes Preisniveau. Ein weiterer Faktor, der zu bedenken ist, ist – wie angesprochen – die globale Versorgungskette und die enorme Abhängigkeit von Indien und China. Im Bereich der Wirkstoffe sind das 70 bis 80 Prozent – bedingt durch die niedrigen Lohnkosten und die wesentlich laxeren Umweltauflagen. In Europa können wir gewisse chemische Prozesse gar nicht mehr durchführen, weil die Auflagen so hoch sind und diese die Produktion enorm verteuern. Das alles bringt uns strategisch in eine ungünstige Position, weil wir von Lieferanten abhängig sind, die geopolitisch gerade von Europa wegdriften – was auf Sicht zu massiven Problemen führen kann. Ich stimme zu: Das Gasthema ist viel harmloser als ein möglicher Wirkstoffengpass. Man muss sich nur vorstellen, wenn uns plötzlich die Onkologika oder Antiinfektiva ausgehen – dann hätten wir echte Probleme.

Welchen Beitrag kann Innovation leisten?
Khinast: Einen sehr großen. Wir vom RCPE beschäftigen uns seit 20 Jahren mit der Entwicklung neuer Produktionsverfahren – allen voran der „kontinuierlichen Produktion“. Das Verfahren der kontinuierlichen Produktion erlaubt es, Pharmazeutika wesentlich effizienter und kostengünstiger herzustellen. Der große Vorteil: Man kommt dabei mit viel kleineren Anlagen aus – bis zu zehnmal kleiner und auch günstiger –, die Sicherheitsrisiken und damit die Kosten sind weitaus geringer und auch der CO2-Ausstoß ist deutlich reduziert. Damit ließen sich die Kosten in der Wirkstoff- und Arzneimittelproduktion drastisch verringern. Wenn wir die alte Technologie ersetzen, könnten wir dem Preisdruck aus Asien leichter standhalten und Europa hätte die Chance, uns in diesem Bereich neu zu industrialisieren. Die Methode ist technologisch marktreif, wird aber in Europa noch kaum eingesetzt. Leider ist die pharmazeutische Industrie langsam, wenn es darum geht, funktionierende Produktionsweisen zu transformieren. Aber für Europa wäre es ein entscheidender Prozess.

Erkinger: Ich glaube nicht, dass die Pharmaindustrie träge ist, aber wir reden hier von einer der komplexesten Industrien überhaupt, die Anpassungszyklen sind extrem lang. Und diese Komplexität ist es auch, die zeitintensive Anpassungsprozesse mit sich bringt. Vieles ist auch durch die Regulatorik vorgegeben, die letztlich dem Schutz des Menschen dient.

Khinast: Absolut richtig. Dennoch sind hier die USA schon viel weiter und setzen vermehrt auf kontinuierliche Produktion, um sich von China zu entkoppeln. Dort beginnt man, die ganze Supply Chain auf westliche Supplier auszurichten – inklusive Stock Piling, also einer Bevorratung. Dort werden hauptsächlich Wirkstoffe auf Lager gelegt. Eine kurzfristige Maßnahme, die wir auch in Europa umsetzen könnten. Aber als langfristige Maßnahme brauchen wir neue Produktionstechnologien, die den alten überlegen sind – dezentralisiert, effizient, schnell und intelligent. Es gibt auch ermutigende Ansätze in Europa – etwa das Programm IPCEI (Important Projects of Common European Interests). Da pumpt die EU gerade viel Geld hinein, nur leider ist Österreich aus dem Programm wieder ausgestiegen, was ich und viele andere sehr schade finden.

Herzog: Der Grund, warum unsere Firmen bei IPCEI abgesprungen sind, ist, dass das Instrument leider extrem bürokratisch ist. Der Aufwand für Einreichungen ist einfach zu hoch und daher die Nachfrage nicht gegeben.

Erkinger: Transformation schafft man auch nicht mit solchen Fördermaßnahmen, sondern damit, ein Marktdesign zu gestalten, das die Wirtschaft auf breiter Ebene in die gewünschte Richtung zieht. Das Preisthema kann ich nur bestätigen: Wir von der Sanochemia sehen, dass es keine Medikamentenengpässe in jenen Ländern gibt, die anständige Preise zahlen. Und noch weniger in Ländern, die die Lieferanten auch pönalisieren, wenn nicht geliefert wird. Wir haben in Europa ein Marktpreissystem geschaffen, das Billigstbieter bevorzugt. Dieses System sorgt für ein Race to the Bottom, das vor allem den generischen Markt trifft, also jenen, wo die Medikamente besonders billig sind und der Mangel am größten ist. Generika stehen für 70 % des Marktes. Dort gehen – wie bereits gesagt – die Preise von Jahr zu Jahr nach unten, was dazu führt, dass es auch immer weniger Angebot am Markt gibt. Wir sehen es in unserem Geschäftsbereich der CT-Kontrastmittel: Während es in Hochpreismärkten keinen Mangel gibt, trifft der Engpass jene Märkte, wo wenig gezahlt wird.

Ist eine Bevorratung ein möglicher Ausweg?
Erkinger: Ich bin ein Gegner dieser Idee. Wenn ich als Staat versuche, mich auf externe Schocks wie eine Pandemie vorzubereiten und große Mengen Medikamente auf Lager lege, dann bedeutet das enorme Kosten. Das halte ich für eine kurzsichtige Maßnahme, die langfristig mehr schadet als nutzt – der Markt ist ungeheuer breit, man kann nicht alles auf Lager legen. Gescheiter wäre es, systemisch vorzugehen. Denn aus meiner Sicht liegt die größte Problematik noch vor uns. Wir stehen erst am Beginn – die Pandemie hat bloß offengelegt, wo die Schwachstellen liegen. Wir haben eine Situation, wo unsere Marktpreissysteme in Europa mit der aktuellen Inflationsdynamik nicht umgehen können. Wenn sich das fortsetzt, wirkt das wie eine Lawine. Dann ist zu befürchten, dass die heimische Produktion noch weiter zurückgeht – gerade im generischen Bereich. Wir haben enorme Preissteigerungen – im Personalbereich von rund 10 %, bei den Energiekosten ist es eine Vervielfachung. Fördermaßnahmen und Zuschüsse sind schön und gut, aber am Schluss des Tages kann ich nur kalkulieren, was der Marktpreis hergibt. Schließlich müssen Unternehmen in der Branche fünf Jahre vorausplanen.

Was also tun?
Erkinger: Aus meiner Sicht braucht es drei Maßnahmen: Zum Ersten müssen wir umgehend die Inflationsdynamik in die Logik der staatlichen Preisgestaltung einbeziehen, sonst wird man die heimische Industrie weiter ausradieren. Zum Zweiten brauchen wir andere Mechanismen, wie wir den Markt steuern – etwa Kriterien bei Ausschreibungen, die nicht nur auf den Preis abstellen, sondern auch Zukunftskriterien berücksichtigen, wie z. B. heimische Produktion oder Nachhaltigkeit. Damit kann man langfristig Positives bewirken. Wenn heimische Anbieter zumindest als Second Source verstärkt zum Zug kommen, wäre das ein erster Schritt. Volkswirtschaftlich wäre es fatal, wenn wir in Europa nicht mehr produzieren – auch für den Innovationsstandort. Denn wenn wir keine Industrie mehr im Land haben, gibt es auch keine Möglichkeit, Innovationen erfolgreich anzuwenden. Um die Technologie in ein System einzubauen, braucht es heimische Produktion. Und der dritte Punkt – eine Lehre aus der Pandemie: Um sich im Wettbewerb zu behaupten, braucht es Marktmacht. Für mich führt kein Weg an einem pan-europäischen Markt vorbei, wenn wir Medikamente sowohl günstig als auch verfügbar haben wollen. Wenn es in Europa gelingt, einen großen Markt zu schaffen, dann entsteht mehr Angebot und es können sowohl attraktive Preise als  auch Lieferverpflichtungen durchgesetzt werden.

Künsberg Sarre:
Das Bild eines gesamteuropäischen Markts halte ich derzeit für nicht realistisch. Ich habe die Unterschiedlichkeit der Versicherungssysteme in Europa kennen-gelernt – in der Zeit, als ich in der Holding unseres ehemaligen Eigentümers im Management tätig war. Ob Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal oder UK – die Versicherungssysteme sind komplett heterogen. Eine Vereinheitlichung wird im absehbarer Zeit nicht passieren.

Herzog: Da haben wir tatsächlich noch einen langen Weg vor uns – auch wenn er wünschenswert wäre. Über eine gemeinsame Bevorratung kann man nachdenken – es geht aber auch nicht von heute auf morgen, denn das Gesundheitswesen ist jener Bereich in der EU, der am wenigsten vergemeinschaftet ist. Jedes Land macht, was es für richtig hält. Wir müssen heilfroh sein, dass wir in der EU einheitliche Zulassungen über die EMA haben. Eventuell gibt es irgendwann in der Zukunft hinter dem EMA-Siegel auch noch ein einheitliches Preispickerl – mit Zuschlägen für reichere und Abschlägen für ärmere Länder.

Vom großen Marktgeschehen dorthin, wo der Mangel greifbar wird: Wie ergeht es Apotheken in Zeiten von Lieferengpässen?
Fuchsbichler: Unsere Sichtweise ist geprägt von den Kundenbeziehungen an der Tara. Wir sind diejenigen, die einer verzweifelten Mutter gegenüberstehen, die dringend einen Antibiotika- oder Fiebersaft für ihr Kind benötigt. Naturgemäß ein sehr emotionales Thema, das für uns in den Apotheken tagtäglich viel Arbeit bedeutet. Es ist ein enormer zusätzlicher Aufwand, der durch diese Lieferengpässe entsteht. Wir waren bzw. sind zwei, drei Stunden am Tag damit beschäftigt zu telefonieren und zu improvisieren, um den Kundenwunsch in irgendeiner Form zu befriedigen. Erster Ansprechpartner dabei ist natürlich der Großhandel: „Gibt’s wieder was? Wann gibt’s wieder was? Wann kommt die nächste Nachlieferung?“ Zudem tauschen wir uns untereinander mit Kollegen aus. Und wir sind mit den Ärzten in enger Abstimmung, um ein alternatives Antibiotikum zu finden – was nicht immer so einfach ist, weil ein Breitbandantibiotikum meist das Mittel der Wahl ist. Jetzt sind wir gefordert, wieder etwas kreativer zu werden. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit einem Kinderarzt telefonieren.

Inwiefern können Sie Medikamente selbst herstellen?
Fuchsbichler: Das Erste ist immer die Rücksprache mit dem Arzt bzw. der Versuch, über den Großhandel sowie andere Apotheken das verschriebene Präparat aufzutreiben. Wenn das nicht funktioniert, bleibt uns als dritte Option die magistrale Herstellung im Haus. Das ist schließlich unser ureigenstes Handwerk – das haben wir gelernt und das beherrschen wir auch. Magistrale Herstellung haben wir immer schon gemacht, etwa bei Dermatologika oder z.B. für Kinder, wenn es Medikamente in der Kinderdosierung nicht gibt. Wir haben die Möglichkeit, in jeder Apotheke magistral herzustellen und diese Säfte selbst zu machen – immer für den Einzelfall. Es ist eine Notlösung – aber sie funktioniert und kann in allen Apotheken Österreichs angeboten werden, um die Situation zu entschärfen. Entscheidend ist dabei die Einhaltung der rechtlichen Grundlagen, die magistrale Herstellung ist mit den Kinderärzten abzuklären und Rezepturen sind auch wissenschaftlich zu prüfen, um größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten.

Soll der Staat die Wirkstoffe dafür zur Verfügung stellen?
Fuchsbichler: Aus meiner Sicht wäre es klug und sinnvoll, wenn es ein Rohstofflager gäbe. Die Verteilung der Rohstoffe sollte über den Großhandel erfolgen. Hier haben wir in den vergangenen drei Jahren gute Erfahrungen mit der Verteilung von Masken, Tests und Sicherheitsausrüstungen gemacht. Ich bin der Meinung, dass es einfach nicht passieren darf, dass ein Kind oder auch ein Erwachsener ein benötigtes Medikament nicht bekommt – da müssen wir alles daran setzen, das zu verhindern! Die schnelle und sichere Reaktion auf eine Erkrankung ist oberstes Prinzip im Gesundheitswesen. Aber insgesamt muss man sagen: Ausgenommen von Antibiotikasäften für Kinder können 95 % der Probleme gut gelöst werden. Das heißt, der überwiegende Großteil der Kunden geht nicht unversorgt von der Apotheke nachhause.

Wie realistisch ist eine Re-Industrialisierung Europas im Pharma-Bereich, um die Abhängigkeit von China und Indien zu reduzieren?
Herzog: Im Niedrigpreissegment halte ich es für wirtschaftlich nicht für sehr realistisch, weil unsere Kostenstruktur in Europa und die Preise, die wir heute sehen, einfach keine wirtschaftliche Produktion er lauben. Auch in Österreich musste ein Mitgliedsunternehmen vor Kurzem ein Insolvenzverfahren anmelden – zu hohe Rohstoff- und Produktionskosten und das Nicht-Übersetzen in Marktpreise führten zu Liquiditätsengpässen. Daher halte ich es für unrealistisch, dass Produktionsstätten in größerem Ausmaß zurückkommen – auch wenn wir von der PHARMIG das Reshoring, also das Rückverlagern von Produktionen, vom Prinzip her unterstützen. Dazu kommt die mangelnde Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber industriellen Produktionsstätten. Es ist ähnlich wie mit den Windrädern, jeder will eine Produktion in Europa, aber keiner das Werk neben sich stehen haben. Ich glaube daher, Europa sollte sich darauf konzentrieren, was wir wirklich gut können: die Förderung von Produkt- und Prozessinnovationen, die Entwicklung von onkologischen Präparaten oder neuen Impfstoffen. Dort, wo es viel Erfindergeist braucht – da sind wir spitze. Nicht umsonst werden drei Viertel aller Impfstoffe für den Weltmarkt in der EU hergestellt. Es wäre langfristig nicht sinnvoll, sich hier auf ein Race to the bottom einzulassen. Andersrum könnte man sich natürlich fragen: Was ist uns die Versorgungssicherheit wert?

Khinast: Ich finde, diese sollte uns sehr viel wert sein. Ich würde dringend dazu raten, diese fast totale Abhängigkeit von China und Indien zu reduzieren. Sie betrifft nicht nur Antibiotika, sondern sehr viele Arzneien. Es ist ja nicht so, dass wir in Europa die Hochpreisprodukte machen und der Rest, das Billige, kommt aus Asien. Von dort kommen Krebstherapien, HIV-Medikamente und Arzneien für neurologische Erkrankungen – also fast alles, was wir brauchen und für das Gesundheitssystem von allergrößter Wichtigkeit ist. Bei den Mikrochips haben wir es in Europa ja auch geschafft, eine gemeinsame europäische Initiative zu starten, diesen Chips-Act. Ähnliches sollten wir auch im Pharma-Bereich anstreben.

Erkinger: Ich halte es auch nicht für falsch, die Arzneimittelproduktion in Europa zu fördern. Denn es geht um viel mehr – es geht etwa auch um die wichtige Frage der Kompetenzen und der Fachkräfte am Standort. Teilweise gehen diese in Europa komplett verloren. Aber diese brauche ich ebenso wie eine laufende Produktion, um dort Innovationen aufzusetzen. Wenn diese Industrie in Europa fehlt, haben wir vor Ort keinen Partner für Innovationen mehr.

Herzog: Da gebe ich Ihnen Recht. Das haben wir auch beim Penicillin-Werk von Sandoz in Kundl gesehen, die zwischendurch Probleme hatten, die dritte Schicht zu bespielen, weil ihnen die Fachkräfte gefehlt haben. Durch die Abwanderung der Industrie geht spezifisches Fachkräfte-Know-how verloren. Denn es reicht ja nicht, irgendwo ein Gebäude hinzustellen, wo dann am Ende etwas rauskommt, sondern wir brauchen ein gesamtes Ökosystem – Zulieferer, Fachkräfte, Maschinen, Maschinenhersteller etc. Leider fördert die EU derzeit eher das Gegenteil – mit der jüngst vorgestellten europäischen Pharmastrategie sind wir drauf und dran, eine große Chance zu vertun und das Leben für Hersteller in Europa noch schwerer zu machen. Denn in dem neuen Regelwerk werden der innovativen pharmazeutischen Industrie weiter die Daumenschrauben angesetzt. Dem Entwurf zufolge wird die Marktexklusivitätsperiode für neue innovative Produkte verkürzt, was dem Grundprinzip einer Innovationsförderung zuwiderläuft. Damit leisten wir einer weiteren Verlagerung der Innovationsprozesse Richtung USA und China Vorschub.

Künsberg Sarre: Ich sehe die Diskussion generell zu stark auf die Hersteller fokussiert, denn es gibt auch andere Player in der Gesundheitsversorgung. Daher ist es uns wichtig, dass sich die Diskussion öffnet – in Richtung jener, die das Medikament wirklich verfügbar machen für den Patienten. Die Extra-Stunden in den Apotheken für das Herumtelefonieren wurden erwähnt – das tun auch wir. Wir sind im Hintergrund tätig, ein reines B2B-Geschäft – uns kennen daher wenige und wissen gar nicht, was wir leisten. Wir sind extrem gefordert, die Verfügbarkeiten permanent auszubalancieren und unsere Kunden zufrieden zu stellen. Ein täglicher Trapezakt – denn zu jeder Anfrage aus einer Apotheke kommen ein paar hundert weitere aus anderen Apotheken, die auch bedient werden wollen. Zum Thema Bevorratung: Ich bin bei Ihnen, Herr Erkinger. Das Thema muss man strukturell lösen, sonst wäre es nur Symptombekämpfung. Die Frage ist aber, wie lange brauchen wir für die strukturelle Lösung? Ich fürchte, das dauert. Und bis dahin halte ich eine gewisse Bevorratung für grundvernünftig, um kurz- und mittelfristig Sicherheit zu schaffen.

Erkinger: Kurzfristig macht das natürlich Sinn. Aber ich frage mich, wer übernimmt die Kosten dafür? Denn Bevorratung kostet sehr viel Geld. Wir Hersteller müssten dann die Finanzmittel dafür aufbringen. In the long run nützt die Bevorratung nichts, weil sie strukturelle Maßnahmen verhindert und geopolitische Krisen überdies langfristige Engpässe hervorbringen können. Viele Medikamente haben auch eine sehr kurze Haltbarkeit und können nur ganz  frisch exportiert werden.

Herzog: Das Thema ist seit Monaten Gegenstand der  Taskforce für Engpässe und wird sehr heiß diskutiert. Da geht es um wesentliche Fragen: Wer bezahlt  und wer bestimmt darüber, welche Arzneien vorrätig  gehalten werden? Das sind alles noch ungeklärte Fragen. Das ist auch der Grund, warum wir als Industrie  sehr lange eine ablehnende Haltung zur Notbevorratung eingenommen haben. Dennoch sind wir der  Meinung: Besser wir arbeiten an einer gemeinsamen  Lösung, bevor eine Worst-Case-Entscheidung ohne  uns getroffen wird.

Fuchsbichler: Ich glaube, dass wir beides brauchen  – eine strukturelle Lösung und eine kurzfristige. Ich  bin für ein Rohstofflager, das die wichtigsten Wirkstoffe vorrätig hält. Das ist für uns Apotheken ganz  wichtig. Die Haltbarkeitsgrenzen müsste man natürlich beachten. Aber es geht immer um diese Notfallsituation – denn wir wissen, es kommt jedes Jahr  Weihnachten und es kommt jedes Jahr die Grippewelle, das ist nicht überraschend. Und darauf kann  man sich bis zu einem gewissen Grad vorbereiten. Es  gibt Apotheken, die hatten bis dato ein Lager von vier  bis sechs Wochen. Mittlerweile kenne ich keine Apotheke, die nicht versucht, zumindest einen Drei-Monats-Bedarf auf Lager zu nehmen.

Khinast: Es gibt eine WHO-Liste von Essential Medicines, rund 300 Wirkstoffe, die wirklich essenziell  sind, um ein System am Leben zu erhalten. Das wäre  ein Ansatz, an dem man sich orientieren könnte.

Herzog: Ein anderer Punkt, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen, betrifft die Transparenz in der  Lieferkette. Es gibt ja bereits viele tolle IT-Systeme, in  denen jedes einzelne Packerl und sein Aufenthaltsort  exakt erfasst sind – aber was fehlt, ist ein System, das  ein Gesamtbild über den Vorrat in Österreich ermöglicht. Vielleicht können wir darüber nachdenken, wie  wir das erreichen. Es gäbe ja bereits ein gutes System,  das aber noch nicht in Betrieb gegangen ist: das EU-weite Fälschungssicherheitssystem, das dazu dient,  Medikamentenfälschungen rasch aus dem Verkehr  ziehen zu können. Dieses könnte man relativ einfach  umschalten auf ein Track & Trace System, sodass ich  genau weiß, wo sich welche Medikamentenpackung  innerhalb von Europa befindet. Es würde enorm  viel Transparenz ins System bringen und wäre ein  Schritt, um die Versorgungssicherheit systemisch zu  verbessern.

Künsberg Sarre: Ich glaube, das Wichtigste wäre, den  Menschen zu erklären, dass Sicherheit und geopolitische Unabhängigkeit auch etwas kosten. Das heißt  nicht, dass wir alles mit Subventionen lösen, überhaupt nicht. Wir müssen systemisch arbeiten, aber  im politischen Diskurs müsste man einmal aussprechen, dass alles seinen Preis hat. „There is no such  thing as a free lunch”, wusste schon Milton Friedman. Ich kann nicht die billigsten Produkte haben,  die auch die innovativsten und sowieso jederzeit verfügbar sind. Ich wiederhole: Wir als Großhandel sollen Medikamente für sieben Cent temperaturgeführt  mit höchsten Standards mehrfach täglich ausliefern.  Das funktioniert einfach nicht. Daher müssen wir  in den Diskurs die Botschaft hineinbringen: Versorgungssicherheit kostet etwas. Auch Kapitalbildung  bei einer Bevorratung kostet etwas, in Zeiten steigender Zinsen umso mehr.

Politisch sind steigende Medikamentenpreise wohl schwer zu verkaufen?Fuchsbichler: Ich denke, dass gerade das Thema Gesundheit besonders wichtig ist, weil es ja jeden betrifft. Die Menschen sind durch die Engpässe sensibilisierter, weil es einfach jeder mitbekommt bzw.  am eigenen Leib spürt. Ich denke, dass immer mehr  Menschen das Bemühen und den Aufwand dahinter  erkennen. Das Verständnis der Bevölkerung ist immens gewachsen ist.

Herzog: Ich glaube auch, die Bevölkerung wäre willens, für Produkte etwas mehr zu bezahlen, wenn dafür die Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Aber  ich fürchte, da fehlt der Politik noch der Mut, das der  Bevölkerung zu erklären. Sie müsste die Verknüpfung herstellen zwischen Preis und Verfügbarkeit.

Das Schlusswort des Forschers?
Khinast: Wichtig ist für mich, dass wir das Positive  nicht aus den Augen verlieren. Die pharmazeutische Industrie hat in den vergangenen Jahrzehnten  unglaublich große Fortschritt erzielt – das ist beeindruckend. Und zahlreiche weitere Entwicklungen,  die viel Lebensqualität bringen und Leben retten  werden, sind in der Pipeline – etwa im Bereich Onkologie oder neurodegenerativer Erkrankungen. Was  wir beitragen können, sind neue Produktionstechnologien. Wir sehen, dass die Entwicklung neuer Produkte immer mehr mit neuen Produktionsverfahren  Hand in Hand gehen muss – es braucht sowohl innovative Medikamente als auch innovative Produktionstechnologien. Wenn man beides verschränkt,  erzielen wir den größten Nutzen.

Fotos: ISTOCK, CONNY LEITGEB

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