Rechtzeitig vor dem Internationalen Logistik-Sommer, dem Main Event der ILS vom 17. bis 19. September in Leoben, laden wir drei Protagonisten zum Interview: Zukunftsforscher und Keynote-Speaker Nils Müller, ILS-Mastermind Kajetan Bergles und Susanne Feiel, Leiterin Internationale Beziehungen an der Montanuniversität Leoben, im Gespräch über Innovation Ecosystems, internationale Wissens-Synapsen, Anti-Fragilität und Logistik als „Betriebssystem der Welt“.
Herr Müller, Ihre Keynote in Leoben trägt den Titel „Let’s co-create future – Innovation Ecosystems“. Was sind Innovation Ecosystems?
MÜLLER: Unsere gesamte Wirtschaft befindet sich in einem fundamentalen Wandel. Die Industriegesellschaft hat ausgedient, aber auch die Wissensgesellschaft, wie wir sie heute kennen. Denn KI wird die Wissensgesellschaft disruptieren und in eine Ecosystem Economy verwandeln. Die Leistungsversprechen der Zukunft sind so komplex, dass sie nicht mehr von einzelnen Unternehmen erbracht werden können, sondern nur noch in Partnerschaften – in Ökosystemen. Innovation Ecosystems erlauben uns auch den nächsten Schritt in der Logistik. Genau dafür ist die ILS eine super Plattform, weil es die künftigen Leistungsversprechen aufzeigt und die richtigen Unternehmen zusammenbringt.
Ein Beispiel für die Ecosystem Economy?
MÜLLER: Nehmen wir die Circular Economy. Kreislaufwirtschaft kann kein Unternehmen der Welt allein. Nicht einmal ein Riesenkonzern wie Amazon schafft das. Man braucht Partner, um den Loop zu schließen. Das Sammeln der Wertstoffe, die Aufbereitung und das Recycling, die ganze Logistik dahin ter, das Generieren neuer Wertströme und so weiter. Um diesen Kreislauf zu schließen, brauchst du vielfältige Partnerschaften.
Auf welchem Weg befindet sich die ILS? Ist sie schon ein Ecosystem?
BERGLES: Entwickelt hat sich die ILS aus einer jährlich stattfinden Veranstaltung, dem Internationalen Logistik-Sommer in Leoben, heute das Main Event der ILS. Die Idee war schon damals, die richtigen Köpfe zusammenzubringen und sich in Form eines Th inktanks der Logistik einmal im Jahr über Zukunftsthemen auszutauschen. Das haben wir auch 20 Jahre erfolgreich gemacht. Mit der Gründung der ILS, der Independent Logistics Soyciety, vor zwei Jahren haben wir uns zur Plattform weiterentwickelt und sind nun auf dem Weg zu einem Ecosystem. Wir sind gerade dabei, unsere Partnerschaften zu erweitern und das Netzwerk zu stärken, indem wir weitere Partner an Bord holen. Wichtiger Teil davon sind auch Investoren, die wir brauchen, um die Dinge voranzutreiben.
Inwieweit ist eine Universität wie die Montanuni Leoben ein Innovation Ecosystem?
FEIEL: Forschung und Lehre funktionieren nur, wenn Dinge ineinandergreifen und Menschen kooperieren. Die Herausforderungen der Zukunft sind gewaltig – alleine kann man die großen Fragestellungen nicht mehr beforschen, geschweige denn Lösungen finden. Nicht einmal innerhalb eines Fachgebiets kann das gelingen. Daher arbeiten wir an der MUL längst nicht mehr isoliert an einzelnen Fachgebieten, sondern denken systemisch – gerade wenn es darum geht, Systeme wie die Circular Economy voranzutreiben. Die Montanuni ist ohnehin die Circular Economy-Universität. Wir haben hohe Exzellenz im Beforschen des Produktionskreislaufs von Anfang bis Ende bzw. bis zur Wiedergeburt, also dem stofflichen Recycling. Dafür sind internationale Kollaborationen unabdingbar.
Nils Müller
Zukunftsforscher und Keynote-Speaker
Kajetan Bergles
ILS-Mastermind
Susanne Feiel
Internationale Beziehungen, Montanuniversität Leoben
CEO des von ihm 2002 gegründeten Unternehmens TRENDONE mit Sitz in Hamburg. Marktführer für Trendforschung und Innovationsberatung im deutschsprachigen Raum. Mit weit über 700 gehaltenen Vorträgen auf nationalen und internationalen Bühnen einer der erfahrensten Inspirationsredner.
Seit 2018 als Projektleiter für den Aufbau der neu firmierten Independent Logistics Society verantwortlich. Die Community-Plattform beschäftigt sich ganzjährig mit Inspiration, Innovation und Interaktion rund um Digitalisierung und Nachhaltigkeit in der Logistik.
Leiterin des Büros
für Internationale Beziehungen und European University an der Montanuniversität Leoben (MUL), wo sie die Gründung von EURECA-PRO, der European University on Responsible Consumption and Production, federführend vorangetrieben hat. Zudem Gründungsmitglied des Sustainable Development Panels und des Diversity Board der MUL.
Welche Rolle spielt digitale Vernetzung bzw. Konnektivität in diesen Ecosystems?
BERGLES: Bei der Digitalisierung müssen wir das Rad nicht neu erfinden, aber es geht darum, das Thema weiter zu transportieren. Wie hat es Keynote-Speaker Professor Gunther Dueck vor drei Jahren in Leoben so schön gesagt? „Wir reden seit 20 Jahren von Digitalisierung. In der Zwischenzeit hätten wir sie auch mal umsetzen können.“ Als ILS setzen wir hier seit vielen Jahren auf Bewusstseinsbildung, um die Menschen zu erreichen – ob mit „Digital Minds“, „Digital Skills“ oder „Digital Emergency“ rund um Corona. In diesem Jahr beschäftigen wir uns mit „Digital Confidence“, weil es rund um das Thema natürlich auch Sorgen und Ängste gibt – ob Datenschutz, Privacy, Hackerangriffe oder Systemausfälle.
FEIEL: Eine robuste digitale Infrastruktur muss einfach gegeben sein – kollaborative Plattformen bzw. Real-Time-Kommunikation sind ein entscheidender Aspekt für eine effiziente internationale Vernetzung. All das ist längst Teil unseres Universitätsalltags. Es erlaubt uns, die systemische Herangehensweise in Bildung und Forschung tatsächlich vollziehen zu können und sichert uns einen freien Zugang zu Bildung und Wissen. Heute können wir Studierende zu Global Citizens ausbilden, ohne dass man als Studierende zwangsläufig ins Ausland gehen muss. Gemeinsam arbeiten, forschen und lernen im digitalen Raum bringt eine enorme Power mit sich.
MÜLLER: Bei Digital Confidence liebe ich vor allem den Begriff Confidence – denn genau das ist es, was wir jetzt brauchen, damit sich die Gesellschaft wieder entfalten kann. Momentan haben viele Menschen Angst, sehen nur noch die Krisen und ziehen sich zurück. Confidence ist das Gegenprogramm – es steht für Neugier, Freiheit, Mut und Optimismus. Wir brauchen den Mut und die Freiheit zu forschen, zu erfinden und zu entwickeln. Siehe das Beispiel Israel. Deren Start-up Ecosystem ist in den vergangenen zwölf Monaten gewachsen, trotz aller Schocks in und um das Land. Durch diese Schocks wurde das System noch stärker – ein Phänomen, das sich Anti-Fragilität nennt. Wenn dich Schocks nicht kaputt machen, nicht fragil, sondern stärker. Aus Schocks erkennst du Chancen und wirst noch mehr confident. Genau so müssen wir künftig unsere Systeme bauen.
„Motion of Things and Human Emotions“ lautet der Untertitel des Main Events in diesem Jahr. Ist Logistik ohne den menschlichen Faktor überhaupt denkbar?
BERGLES: Wir versuchen natürlich immer nach unserem Credo zu gehen: Logistik ist das Betriebssystem der Welt. Nur die Logistik alleine wird nicht funktionieren ohne den Menschen. Und der Mensch wird auch nur in Kombination mit logistischen Systemen und digitalisierten Abläufen gut leben können – daher braucht es auch notwendigerweise Confidence. Und ja, Human Emotions und Motion of Things bedingen einander.
MÜLLER: Wir entwickeln uns gerade von der Industrie 4.0 zur Society 5.0. Diese ergänzt die Industrie 4.0, also die intelligente Fabrik, um den Faktor Mensch. Roboter arbeiten mit den Menschen als Partner im Coworking zusammen, zudem kennt die intelligente Fabrik das Customer Frontend, und weiß damit, was die Kunden der Zukunft wollen. Mittels neuer Technologien wie 3-D-Druck kann hyperpersonalisiert für den Kunden produziert werden. Zugrunde liegt der Entwicklung eine nachhaltige, sichere KI, die customer-centric ist – also eine empathische KI. Wir sehen eine Reihe an Future Skills und Future Jobs, die dadurch neu entstehen werden.
Independent Logistics Society ILS 2024
Interdisziplinäre Plattform für Driving Trends rund um Digitalisierung und Nachhaltigkeit in der Logistik.
Das Main Event der ILS ist der Internationale Logistik Sommer, der in diesem Jahr zum 22. Mal in Leoben über die Bühne geht.
17. bis 19. September im Live Congress Leoben.
Das Jahresthema: „Digital Confidence – The Motion of Things & Human Emotions"
https://ils365.at
FEIEL: Das ist genau unser Zugang an der Uni. Wir bilden die jungen Leute aus, damit sie zukunftsfähig arbeiten können. Wir müssen Skills vermitteln, damit die künftigen Absolventinnen und Absolventen so robust, resilient und flexibel sind, dass sie sich selbst weiterbilden können und die kommenden Anforderungen antizipieren. Wir wissen, dass wir viele der Jobs, die es in Zukunft geben wird, noch gar nicht kennen. Das stellt uns natürlich vor Herausforderungen im Design von Curricula und Studienplänen, ist aber ganz wesentlich, um zukunftsfit zu bleiben.
Wie kann Logistik künftig effizienter, nachhaltiger und klimagerechter werden?
MÜLLER: Künstliche Intelligenz wird entscheidend dazu beitragen. KI ist ja gerade dabei, sich selbst zu optimieren. Das heißt, die KI kann den nächstbesseren KI-Algorithmus entwickeln. Das ist quasi Evolution in Millisekunden. Und das erleben wir gerade und bedeutet eine enorme Beschleunigung. Diese evolutionäre KI, ebenso wie Quantencomputing, wird sich rasant weiterentwickeln und ganz viele Probleme lösen, die der Mensch nie lösen konnte.
BERGLES: Ich sehe es ganz ähnlich, vor allem was die Geschwindigkeit der Veränderung betrifft. Ich kann mich gut erinnern, als Nils vor 11 Jahren schon einmal die Keynote in Leoben hielt – damals haben wir gesprochen über 3-D-Druck, Drohnenflug, Augmented Reality etc. Und all diese Dinge sind ja tatsächlich eingetreten und bereits State of the Art. Was jetzt bei KI auffällt, ist die enorme Geschwindigkeit, das atemberaubend ist. Wir sehen es bei der Entwicklung von ChatGPT – wobei die Frage der Validierung noch ein ungeklärter Punkt ist. Für die Inhalte von KI braucht es immer noch den menschlichen Verstand, um diese zu validieren.
Welche Rolle wird das Thema Logistik bzw. Green Logistics, künftig an der Montanuni spielen?
FEIEL: Der Bereich Green Logistics wird – so wie alle grünen Technologien – eine zentrale Rolle spielen. An der MUL forschen wir seit geraumer Zeit nur noch an Dingen, die nachhaltig sind und dem Klimaschutz dienen. Laut ihrem Profil begleitet die MUL Materialien und Stoffe durch ihren gesamten Lebenszyklus. Von der Gewinnung des Rohstoffs über seine Weiterverarbeitung, der Materialbearbeitung, Produktion und Distribution bis zur Wiederverwertung am Ende des Produktlebenszyklus bzw. Reintegration in den Kreislauf. Das heißt, für jeden dieser Schritte brauche ich Logistik. Und da wir eine konsumbasierte Gesellschaft sind, die sich mit sehr vielen Produkten umgibt, ist die Logistik ein Herzstück – vor allem die grüne Logistik.
„Logistik ist weit mehr als der Transport von A nach B. Logistik ist das Betriebssystem der Welt.“
KAJETAN BERGLES
ILS-MASTERMIND
Unter dem Begriff Logistik versteht jeder etwas anderes. Was ist es für Sie?
BERGLES: Wie schon erwähnt, wir sehen Logistik als das Betriebssystem der Welt. Denn man muss klar sehen: Jedes Unternehmen hat eine Logistik – ob logistische Prozess im Unternehmen oder sonst irgendwo entlang der Wertschöpfungskette. Ein Unternehmen ohne Logistik gibt es nicht. Daher ist es uns so wichtig, das Thema Logistik positiv zu besetzen, weil Logistik weit mehr ist als ein Schiff, das im Suezkanal hängen bleibt. Also reden wir über die spannenden und positiven Aspekte der Logistik, denn es gibt viele gute Geschichten zu erzählen – siehe z.B. das Thema Aus- und Weiterbildung für unsere Fachkräfte der Zukunft.
„KI wird die Wissensgesellschaft disruptieren und in eine Ecosystem Economy verwandeln.“
NILS MÜLLER
ZUKUNFTSFORSCHER
Dem Thema Ausbildung ist heuer in Leoben mit der Evolution Stage ein Schwerpunkt gewidmet. Was können wir erwarten?
FEIEL: Auf dieser Stage wollen wir die einzelnen Schritte in der Evolution eines „Logistics Engineers“ zeigen. Denn irgendwann hat jeder einmal als Schü lerin oder Schüler angefangen bzw. ein Studium absolviert. Wir wollen diese Evolution im Karriereweg von Beginn an erlebbar machen und dabei aus internationaler Perspektive aufzeigen, wie wir mit Universitäten weltweit kooperieren. Denn im Grunde betreiben wir hier ein internationales Logistik-Gehirn. Für mich sind internationale Kooperationen zwischen Universitäten so etwas wie die Denk-Synapsen bzw. die Wissens-Synapsen der Welt. Daher sind auch internationale Partner zum Event geladen und wir machen gemeinsam eine Studierenden-Challenge – die Teilnehmer sind Studierendenteams unserer Partneruniversitäten an verschiedenen Orten der Welt. Wir sind schon sehr gespannt!
„Internationale Kooperationen zwischen Unis sind so etwas wie die Wissens-Synapsen der Welt.“
SUSANNE FEIEL
INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN, MUL
Die Highlights beim diesjährigen Main Event der ILS?
BERGLES: Wir werden Leoben wieder zum Hotspot der Logistik machen und freuen uns, dass sich die Community im September wieder für drei Tage bei uns trifft, um sich über Zukunftsthemen der Logistik auszutauschen – in unterschiedlichsten Formaten. Das wichtigste Ziel für uns lautet, unsere Teilnehmer zu begeistern und ihnen die Möglichkeit zu geben, mitzuarbeiten – etwa bei unseren Panels oder bei unserem Kitchen-Talk, bereits ein bewährtes Highlight in Leoben. Aber die ILS ist längst nicht nur ein Event. Wir bespielen das Th ema „Digital Confidence“ über das ganze Jahr auf unserer Plattform sowie mit kleineren Micro-Events.
Fotos: Oliver Wolf, Trendone