Spirit of Styria

Unter Spannung AUS DER NORM

Die Künstlerin Lisa Reiter befasst sich in ihren Installationen mit Körperbildern, Feminismus und Feminität. Im Gespräch mit SPIRIT of Styria verrät sie, warum Sie mit dem Begriff der Norm wenig anfangen kann, dass Materialien wie Feinstrumpfhosen auch ein zweites Leben haben und, dass der Wille, sich vom gesellschaftlich propagierten Perfektionismus zu befreien, einen bewussten Akt der Zerstörung voraussetzt.

In ihrer vielschichtigen künstlerischen Arbeit erforscht Lisa Reiter das Verständnis von Körpern, ihren eigenen Bezug dazu und die damit verbundenen zwischenmenschlichen Beziehungen auf einer tief in uns verankerten Ebene. „Schon als Jugendliche hat mich immer wieder beschäftigt, dass ich mit gesellschaftlichen Rollenbildern von Geschlechtern sehr wenig anfangen kann, dass ich mich an Konformitäten reibe. Heute suche ich über die Kunst eine Antwort auf die Frage, wie wir uns als Menschen begegnen würden, wenn wir frei von so starren Geschlechterkonstruktionen wären?“, erklärt die Künstlerin. In frühen Werkserien, die klingende Namen tragen wie „Nach Strich und Faden“, „Hommagen an“ oder „Darunter“, befasst Lisa Reiter sich mit Körpern und deren Zuschreibungen. „Schon in der Schulzeit setzte ich mich über Aktstudien und Aktzeichnungen damit auseinander, wie Körper aussehen. Und habe nach einem Medium gesucht, das für diese Art der Kunst für mich passend erscheint, das mir dabei helfen soll, Körper einerseits abstrahieren und andererseits in den dritten Raum verlagern zu können.“

Lisa Reiter ist Preisträgerin des Morgenstern-Kulturpreises des Landes Steiermark 2021

DRAHT ZUR SPANNUNG
Unter anderem wurde Lisa Reiter von den Arbeiten des obersteirischen Verlegers, Kulturmanagers und Künstlers Friedrich „Fritz“ Panzers inspiriert, der in seinen Skulpturen die Konturen von Alltagsobjekten mithilfe von Draht dreidimensional „nachzeichnete“. Lisa Reiters Skulpturen greifen diese räumliche Tiefe auf, stellen jedoch keine Objekte, sondern Silhouetten in den Vordergrund. Diese Silhouetten überzieht Lisa Reiter mit handelsüblichen Feinstrumpfhosen, wodurch ihnen ein ganz besonderes, emotionales Spannungsverhältnis verliehen wird. „In mehrfacher Hinsicht sind in einem doch eigentlich so simplen Gegenstand wie einer Strumpfhose mehrere Gegensätze verwoben: Sie erzeugen eine zweite Hautschicht, die man aber wieder abstreifen kann. Sie sind sichtbar und dennoch transparent. Sie sind auch in ihrer Materialität voller Gegensätzlichkeiten, da sie auf der einen Seite dehnbar sind, auf der anderen Seite aber auch so zerreißbar, fragil und zerbrechlich. Und genau diese Haptik, das Transparente, und die Stimmung, die man mit ihnen erzeugen kann, fasziniert mich. Das liegt sicher auch daran, dass ich einfach ein Faible für Materialien habe“, verrät Lisa Reiter.

Ich will bewusst Kritik üben an gängigen Zuschreibungen und thematisiere Themen wie Feminismus und Feminität über meine Kunst.

LISA REITER, KÜNSTLERIN

MATERIAL MIT WERT
Als Teil einer handwerklich sehr begabten Familie kam sie schon früh mit unterschiedlichsten Materialien in Berührung. „Als ich erst vier Jahre war, hat mir meine Oma schon Stricken beigebracht. Viel Zeit verbrachte ich mit meinem Papa oder Opa in der Werkstatt, und überhaupt hebt meine Familie ganz vieles auf und verwendet es wieder neu. Deshalb besitzen Materialien für mich auch eine ganz andere Form von Wert. Außerdem ist es für mich seit jeher selbstverständlich, Dinge selber zu machen und auch zu erkennen, was man, abgesehen von ihrer eigentlichen Verwendung, noch alles mit ihnen machen kann. So kam ich unweigerlich zur Kunst.“ Nach der Matura zog Lisa Reiter nach Graz, wo sie nach einer Lehre als Buchbinderin in einer kleinen Grazer Druckerei namens Infinitive Factory arbeitete. Schon während dieser Zeit war sie künstlerisch tätig und gründete gemeinsam mit Peter Oswald den Verein „Das Uhrwerk“, eine Plattform und Ausstellungsraum für junge KünstlerInnen, nachdem sie 2016 in der Gotischen Halle in Graz ihre erste Solo-Ausstellung „Nach Strich und Faden“ präsentierte.

LISA REITER

Geboren 1994 in Oberösterreich, zog nach der Matura nach Graz, derzeit lebt und arbeitet sie in Wien. Meisterprüfung Buchbinderei
Studium Plastische Konzeptionen – Keramik, Kunstuniversität
 
Linz
Gründerin und Vorsitzende des Vereins Das Uhrwerk, eine Plattform und Ausstellungsraum für junge KünstlerInnen, 

Graz
Zahlreiche nationale und internationale Einzel- und Gruppenausstellungen:
2022 Parallel Vienna mit der Kunsthalle Graz, 
Project Statement, Einzelausstellung, Wien 2022 November, What the fem?, Nordico Stadtmuseum Linz, Gruppenausstellung
www.lisareiter.com

„Seitdem geht es von einer Ausstellung und von einem Projekt zum nächsten“, erklärt die vielbeschäftigte Künstlerin. Während der Corona-Pandemie zog Lisa Reiter von Graz nach Wien und begann an der Kunstuniversität Linz das Fach „Plastische Konzeptionen – Keramik“ zu studieren. „Ich brauchte Veränderung. In meinem Leben, aber auch in meiner Kunst. Und habe in dieser Zeit ganz bewusst in mich hineingespürt und mich gefragt, was und wohin ich will. Das ist ein wesentlicher Antrieb für mich. Stets zu fragen, ob ich mir selbst in meiner Kunst treu bleibe, ob das immer noch ich bin? Denn, wenn man Kunst macht, resoniert das in einem selbst und mit anderen. Das erste Gefühl, das dabei entsteht, wenn meine Arbeiten in welcher Weise auch immer das erste Mal zu Menschen sprechen, ist mir in meinem Schaffen wichtig. Weiterhin hauptsächlich Feinstrumpfhosen als Material zu verwenden, fühlte sich nicht mehr zu hundert Prozent stimmig an. Sich davon zu lösen und etwas Neues zu wagen – das war ein schwieriger, schmerzlicher Prozess“, gibt Lisa Reiter zu verstehen.

Draht und Feinstrumpfhosen bilden den materiellen Rahmen für Lisa Reiters Objekte.

Dreidimensionales Zeichnen: Ihre Objekte vereinen räumliche Tiefe, Transparenz und Gegensätze

UNTER ZUG UND DRUCK
Angestoßen durch diesen Veränderungsprozess und den Schwerpunkt ihres Studiums experimentierte die Künstlerin mit neuen Materialien wie Keramik. „Aktuelle Objekte beschäftigen sich mit Zug und Druck. Damit, was es für mich auch körperlich bedeutet, unter Zug und Druck zu stehen.“ Die Künstlerin setzt ihre Ton-Werke einem Druck aus: In nassem Zustand werden ihre an Bauklötze erinnernden, turmartigen Objekte mit Gurten umspannt, an denen mehrere Personen ziehen, wodurch diese Gebilde eingedrückt werden, de formiert werden, sogar kollabieren. Gebrannt und mit einer dünnen, weichen Schicht aus Nylonflock überzogen, erhalten sie den Charakter von Schaumstoff „und sehen dadurch nicht wie Ton aus, sondern wie rosa Plüsch“, so Lisa Reiter, die bewusst Verwirrung im Gegenüber stiften will. Auch in aktuellen Werkserien spielt die Künstlerin bewusst mit Gegensätzen, deckt Bedeutungsbeziehungen auf, hinterfragt Normen. „In aktuellen Arbeiten setze ich mich stark mit dem Scheitern auseinander, damit, nicht perfekt sein zu wollen und den Begriff der Perfektion zu durchleuchten. Indem ich meine Objekte durch Zug und Druck verändere, indem ihre sonst so perfekte Oberfläche Risse bekommt, erlöse ich sie von diesem Zwang der Perfektion. So entsteht auch für mich ein Gefühl der Befreiung, wenn Hemmungen fallen, denn ich hatte immer schon einen hohen Perfektionsdrang. Wenn fremde Leute an meinen Werken „ziehen“, ist das eine Konfrontation, die ich nicht steuern kann, ein gezielter Kontrollverlust, dem ich mich aussetze.“

Tonobjekte unter Zug, Druck und Spannung, die wie Plüsch wirken und bewusst „unperfekt“ sind.

UNPASSENDE NORMGRÖSSEN
Der gesellschaftliche Drang nach Perfektion spiegelt sich laut Lisa Reiter vor allem in „normierten Gegenständen“ wider: „Bestes Beispiel für eine Normgröße ist für mich ein Tetrapak. Ich hab ihn metaphorisch in Bezug zu Körperbildern gesetzt, denen wir in unseren Schönheitsnormen nach-streben. Ein Tetrapak stellt für mich eine Vereinfachung dieses Prinzips dar. Etwas so in eine Form zu bringen, dass es möglichst effizient und gleich ist, denn ein Tetrapak passt wieder in einen Verpackungskarton, der passt wiederum auf eine Euromaßschachtel, die wiederum auf eine Europalette passt, und die Europalette passt in den Lkw. Das ist alles wahnsinnig optimiert.

Tetrapack

Alles passt irgendwo hinein – aber passt uns das, als Individuen? Ist das die Norm?“, fragt Lisa Reiter, die in ihren Tetrapaks, in Schichten angelegt, all jene Materialien verarbeitet, mit denen sie je gearbeitet hat – darunter Wachs, Gips, Strumpfhosenreste. Indem Kunst in diesen Alltagsgegenständen zur Norm gepresst wird, werden beiderseits Normbegriffe einer Reflexion unterzogen und deren wahrer Charakter aufgedeckt. „Ich will bewusst Kritik üben an gängigen Zuschreibungen und thematisiere Themen wie Feminismus und Femininität auch über meine Ausstellungen“, unterstreicht die Künstlerin, deren Arbeiten international gezeigt werden. Aktuell sind Lisa Reiters Skulpturen auch in Österreich zu sehen: Im November sind ihre Werke Teil der Gruppenausstellung „What the Fem?“ im Nordico Stadtmuseum Linz.

Fotos: PETER OSWALD – TASTYCREATES

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