Spirit of Styria

Von Zellen LERNEN

Wie sich nachhaltige Stadtentwicklung organische Zellen zum Vorbild nehmen kann, das untersuchen die Stadtplanerin und Stadtforscherin Sanela Pansinger und die Biotechnologin Anita Emmerstorfer-Augustin in einem interdisziplinären Projekt. Finanziert wird es vom internationalen Spitzenforschungszentrum acib.

Zellen leben in Gesellschaft. Und sie sind empfindlich. Der Mensch kann sie verändern, aber gut tut ihnen das sehr oft nicht. „Eine Zelle sagt einem ganz klar, wenn man bei den Eingriffen zu weit gegangen ist“, erklärt die Biotechnologin Anita Emmerstorfer-Augustin. Ihr Wissen stellt sie im Rahmen eines vom Forschungszentrum Austrian Centre of Industrial Biotechnology (acib) finanzierten Forschungsprojekts in den Dienst der Stadtentwicklung. Ihre Projektpartnerin ist die Stadtplanerin und Stadtforscherin Sanela Pansinger vom Büro adasca. Gemeinsam versuchen die beiden mit ihrem Team seit einem Jahr, Wissen aus der Zellforschung auf Stadtplanung und auf die Entwicklung von Quartieren anzuwenden. Von der Zelle zur Parzelle gleichsam. „Wie mit der Zelle auch, muss man mit einer Parzelle vorsichtig umgehen“, sagt Pansinger. „Wie kann man sie bebauen, ohne ihre Eigenschaften zu zerstören, wie kann man sie in sozialer, ökonomischer, ökologischer und gestalterischer Hinsicht nachhaltig machen, das sind Fragen, die wir uns in diesem Forschungsprojekt stellen.“

Sanela Pansinger arbeitet gerade an einem Konzept für ein Eisenbahngelände in Graz. Auf dem Areal soll ein neues Stadtquartier mit Wohnungen, Geschäftsflächen, Büros und einem öffentlich zugänglichen Park entstehen. Die Erkenntnisse des interdisziplinären Forschungsprojekts „ZELLEParZELLE“ werden in ihre Planung einfließen. „Wir haben es bei diesem Gelände mit vielfältigen Herausforderungen zu tun“, erklärt die Stadtplanerin. „Man kann heute aber keine Bebauung mehr planen, ohne zu wissen, wie die Energiegewinnung aussieht, wie das soziale Leben auf diesem Areal aussehen wird und wie das Quartier ökonomisch und ökologisch lebensfähig sein kann.“ Um auf alle diese Fragen eine Antwort zu finden, hat Pansinger Spezialisten für urbane Ökonomie, Verkehrsplaner, Energieexperten und Klimatologen um sich versammelt. „Es geht darum, Stadtentwicklung ganzheitlich zu betrachten“, fasst Emmerstorfer-Augustin zusammen. „Wir müssen versuchen, zu einem natürlicheren Bewusstsein zurückzukehren und Bedingungen zu schaffen, die für das Überleben einer Parzelle notwendig sind.“

„Es geht darum, Stadtentwicklung ganzheitlich zu betrachten. Wir müssen zu einem natürlicheren Bewusstsein zurückkehren und Bedingungen schaffen, die für das Überleben einer Parzelle notwendig sind.“

SANELA PANSINGER UND
ANITA EMMERSTORFER-AUGUSTIN
ZELLE-PARZELLE-FORSCHERINNEN

AUSTRIAN CENTRE OF INDUSTRIAL BIOTECHNOLOGY (ACIB) 

Gegründet 2010

Non-Profit-Organisation und internationales Forschungszentrum für industrielle Biotechnologie mit Standorten in Graz, Innsbruck, Tulln, Wien, Linz, Bielefeld, Heidelberg und Hamburg sowie Pavia Barcelona, Rzeszów, Ljubljana, Canterbury, Australien, Neuseeland und Taiwan. 

Acib ist Partner von mehr als 150 Universitäten und Unternehmen, wie BASF, DSM, 
Sandoz, Lonza, G.L Pharma, Boehringer Ingelheim RCV, Jungbunzlauer, VALIDOGEN GmbH und Evonik.

Am acib forschen und arbeiten derzeit mehr als 250 Beschäftigte an mehr als 175 Forschungsprojekten.

Eigentümer des acib sind die Universitäten Innsbruck und Graz, die 
TU Graz, die Universität für Bodenkultur Wien sowie Joanneum Research. Gefördert wird das K2-Zentrum im Rahmen von COMET – Competence Centers for Excellent Technologies  von den Ministerien für Klimaschutz und Bildung sowie von den Ländern Steiermark, Wien, Niederösterreich und Tirol. Das COMET-Programm wird  von der Forschungsförderungsgesellschaft FFG abgewickelt.

Dass lebende Zellen dafür viele Anregungen parat haben, davon sind die Projektpartnerinnen überzeugt. „Die Natur ist unser bester Lehrmeister“, betont Pansinger. Und das ist nicht so weit hergeholt, wie manch einer denken könnte. „In der Natur gibt es nur Ansammlungen von Mikroorganismen, zum Beispiel einen Biofilm, und viele Mikroorganismen können nur in einem Biofilm überleben“, erklärt Emmerstorfer-Augustin. „Zellen brauchen andere Zellen, um Synergien entwickeln zu können. Das gilt auch für die kleinste Einheit einer Stadt, die Parzelle.“

Übersetzt auf die Herausforderung, einen Stadtteil lebensfähig zu machen, bedeutet dies, Energiekonzepte zu entwickeln, Begrünungskonzepte für Dächer und Fassaden zu entwerfen, mit denen man den durch die Bebauung versiegelten Grünraum kompensieren kann. Es geht aber auch um Konzepte, wie in einem Stadtteil sozialer Zusammenhalt entstehen kann. „Europäische Städte sind geschichtlich gekennzeichnet von kleinen Maßstäben“, betont Pansinger. „Wir haben in den letzten Jahrzehnten aber auf immer größere Maß-stäbe gesetzt. Wir kennen unsere Nachbarn nicht mehr und haben deshalb auch das Gefühl der Verantwortung für unsere Umgebung verloren.“ Für Pansinger sind gemeinschaftliche Wohnprojekte und Energiegemeinschaften Zeichen dafür, dass ein Leben in Gemeinschaft – wie es die Zelle vor-lebt – an Bedeutung gewinnt. Pansinger und Emmerstorfer-Augustin sind davon überzeugt, dass interdisziplinäre Projekte wie ZELLE-ParZELLE allen Wissenschaftsdisziplinen guttun. „Am Anfang muss man sich zwar erst an die Sprache seiner Partner gewöhnen, aber mit der Sprache ändert sich auch die eigene Wahrnehmung“, erklärt Pansinger. „Und mit der Wahrnehmung ändert sich unser Denken und in der Folge davon auch unser Handeln.“ Die Biotechnologin stimmt dabei der Städteplanerin zu. „Der Wissenschaftsbetrieb wird immer spezialisierter“, sagt sie. „Das verengt aber den Blick, was nicht immer gut für die Forschung ist. Je offener man ist, desto besser. Es geht also um fokussierte Offenheit.“

Wenn man zurück will zu kleinen, nachhaltigen Einheiten würde damit aber auch eine Entwicklung gestoppt, die in vielen Städten inzwischen zum Problem geworden ist: Der Flächenfraß an der Peripherie. „Dort sind Stadtteile entstanden, die von Barrieren umgeben sind“, kritisiert Pansinger. „Beim Verbauen einer räumlichen Zelle ist es – wie in der biologischen auch – entscheidend, ihre Konnektivität, also ihre Durchgängigkeit zu erhalten. Denn jedes System, das von seiner Umgebung abgekoppelt wird, ist nicht überlebensfähig.“ Pansinger setzt im Gegenzug auf sparsamen Umgang mit Raum und anderen Ressourcen. „Wir haben schon alles verbraucht, was es zu verbrauchen gibt. Wir müssen heute versuchen, das demografi-sche Wachstum aufzufangen, ohne zusätzliche Ressourcen zu verbrauchen. Uns stehen dafür hochentwickelte Technologien zur Verfügung, damit wir so bauen können, dass man mehr zurückgibt als man wegnimmt.“ Die Digitalisierung ist für Pansinger eine Technologie, die unsere Beziehung zum Raum verändern kann. Sie kann Landgemeinde vor Abwanderung schützen und in innerstädtischen Quartieren neue Arbeitsplätze schaffen. „Man denke an einen Tisch: Früher wurde am Tisch gegessen, heute liegt dort das Tablet, über das man kommuniziert oder Dinge einkauft“, argumentiert Pansinger. „Die Digitalisierung sorgt für neue Möglichkeiten. Eine Drohne kann Medikamente in abgelegene Dörfer bringen, ohne dass man dafür eine zusätzliche Infrastruktur anlegen muss.“ Technologie in Kombination mit den Gesetzmäßigkeiten der Natur, für die beiden Forscherinnen könnte das der Weg in die urbane Zukunft sein.

Fotos: Oliver Wolf

Folgt uns

Tretet mit uns in Kontakt, folgt uns auf unseren Social Media Kanälen. Wir freuen uns!