Spirit of Styria

„Der Mensch ist fähig zu RADIKALEM WANDEL“

Über die noch ungeschriebene Zukunft einer spannenden Spezies: Der deutsche Historiker, Autor und Journalist Philipp Blom im Interview über Irrtümer der klassischen Wirtschaftstheorie, die Kraft der Vision und die Frage, ob der Mensch bessere Entscheidungen treffen wird als der Hefepilz. Am 31. Mai ist Philipp Blom Keynote-Speaker am diesjährigen Zukunftstag der SFG.

TEXT: SIGRID GAISCH-FAUSTMANN
Das Interview entstand im Vorfeld des Zukunftstags der SFG. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Was gab den Anlass für Sie, sich mit den Umbrüchen unserer Zeit auseinanderzusetzen?
Der Anlass war schlicht Zeitgenossenschaft. Vor zehn Jahren habe ich angefangen, mich wissenschaftlich in die Thematik einzulesen – und ich war bestürzt über meine eigene Ignoranz: Dieses seit Langem vorhandene und offensichtliche Wissen hatte sich in meinem Leben noch gar nicht niedergeschlagen. Dabei sind es frei zugängliche Informationen, für jedermann verständlich und ganz nah an unseren Fingerspitzen.

Was findet denn eigentlich gerade statt? Angenommen, Sie müssten es einem Kind erklären.
Einem Kind würde ich erklären, dass wir über Jahrzehnte auf der Erde viel mehr genommen haben als gegeben. Das beginnt jetzt zu fehlen und wird, wenn wir so weitermachen, irgendwann dazu führen, dass wir Menschen selbst nicht mehr gut leben können. Wir schwimmen alle im selben Schwimmbad, würde ich erklären: Wenn einer spritzt oder etwas hineinschüttet, kriegen das alle anderen auch mit. Das ist ja nicht schwer zu begreifen. Trotzdem verhalten wir uns aber so, als begriffen wir es nicht.

Inwiefern verhalten wir uns so?
Nehmen Sie als Beispiel die klassische Wirtschaftstheorie. Wenn Sie einen Produktionsbetrieb gründen, bedenken Sie aus Ihrer Sicht relevante Faktoren: Woher kommen die Rohstoffe und über welche Transportwege, welche Produktionsprozesse und Maschinen setzen Sie ein, wie sehen Marketing und Logistik aus? Aber wie viele Gedanken machen wir uns über den Erhalt der Biodiversität am Standort, die Reinheit der Atemluft oder einwandfreies Wasser? Diese Dinge sind lediglich Externalitäten für Wirtschaftswissenschafter, und das belegt deutlich unsere Illusion: Wir handeln, als ob es den Faktor Natur quasi nicht gäbe. Als sei die Natur einfach da, und wir könnten machen, was wir wollten, sie bliebe unverändert. Ein fataler Irrtum.

Wo sind wir denn in die Irre abgebogen?
In unserer Weigerung, anzuerkennen, dass wir ein Teil von hochkomplexen Systemen sind, in denen alles mit allem verbunden ist. Was ein Einzelner tut, wirkt auf alle zurück, denn wir befinden uns miteinander im Kreislauf. Unser Leben ist in Wahrheit eine delikate Aufhängung, wie ein Mobile über einem Kinderbett. Wenn Sie an einem Faden ziehen, dann verändern Sie die Konstellationen aller anderen. Stellen Sie sich das hundertmillionenfach größer und komplexer vor, dann bekommen Sie eine Ahnung von der Wirkungsweise der Natur.

Warum fällt uns Menschen die Kurskorrektur so schwer?
Es handelt sich nicht um Unvermögen, sondern um Unwillen. Man braucht kein Expertenwissen, um die Zusammenhänge nachzuvollziehen. Natürlich ist es beispielsweise ein Problem, wenn wir das CO2, das Organismen über Jahrmillionen im Boden eingelagert haben, in Jahrzehnten wieder in die Atmosphäre blasen. Eine Studie der NASA hat den CO2-Gehalt in der Atmosphäre über die letzten 8.000.000 Jahre analysiert. Da gibt es im 100.000-Jahr-Rhythmus durchaus Schwankungen. Aber seit 1960 ist der CO2-Gehalt auf ein noch nie dagewesenes Level explodiert. Das korreliert mit dem steigenden Erdölverbrauch, Fleisch- und Warenkonsum, der wachsenden Weltbevölkerung, der Produktion von Plastik usw. Diese Entwicklung markiert einen massiven Einschnitt in die Klimageschichte der Erde, den es zuvor noch niemals gegeben hat.

PHILIPP BLOM 
Geb. 1970 in Hamburg, ist Schriftsteller, Historiker und Journalist.
Studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.
Veröffentlichte historische Sachbücher (z. B. „Der taumelnde Kontinent“) 
und philosophische Fabeln.
Aktuelles Buch: „Die Unterwerfung: Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur“ (Carl Hanser Verlag). Auch sein Werk „Was auf dem Spiel steht“ (2017) behandelt Zukunftsthemen vor dem Hintergrund des Klimawandels und der 
Digitalisierung. 

Blom ist mit der neuseeländischen Schriftstellerin Veronica Buckley verheiratet und lebt nach London und Paris heute in Wien.

Philipp Blom ist neben Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner Keynote-Speaker am Zukunftstag der SFG am 31. Mai. 
Infos und Anmeldungen unter: www.sfg.at

Bedeutet diese Veränderung denn Zerstörung?
Ich weiß nicht, ob wir die Macht haben, etwas zu zerstören. Aber wir verändern die Welt derzeit so massiv, dass wir selbst mit diesen Veränderungen nicht gut werden leben können. Wir Menschen sind eine Tierart in der Natur, wenn auch eine besonders interessante. Momentan sabotieren wir unsere Lebensgrundlage, was nicht sehr menschlich ist, sondern etwas, das viele anderen Spezies auch getan haben. Mein Lieblingsbeispiel ist die Hefe: Werfen Sie die in eine Zuckerlösung, dann frisst sie dort alles auf, was sie finden kann, explodiert mengenmäßig und kollabiert schlussendlich. Ich fände es cool, wenn wir Menschen nach hundertausenden Jahren Evolution etwas weiter wären als der Hefepilz.

„Wir müssen unsere bisherigen Patentlösungen loslassen und uns öffnen für etwas völlig Neues.“

PHILIPP BLOM
AUTOR UND HISTORIKER

Unsere Wissenschaft weiß mit Sicherheit mehr als der Hefepilz?
Die Wissenschaft weiß ganz eindeutig, was auf uns zukommt. Die heutigen extremen Wetterereignisse wurden vor 50 Jahren unmissverständlich prophezeit. Und siehe da, sie sind genauso passiert. Und jetzt sagt die Wissenschat erneut Dinge für die kommenden Jahrzehnte voraus und wir interessieren uns nicht einmal richtig dafür? Das ist doch Wahnsinn. Und dabei ist es dieselbe Wissenschaft, die wir so schätzen, weil sie uns Handys gibt, Autos, Medikamente und Teleskope! In den letzten Jahrzehnten wurden alle Probleme der Welt mit ökonomischem Wachstum gelöst. Diese Strategie versagt jetzt. Wachstum an sich kann keine Antwort mehr sein auf das aktuelle Krisengeschehen. Wir müssen unsere bisherige Patentlösung loslassen – auch, wenn das manche Menschen, gerade in Machtpositionen, nicht hören wollen.

Trauen Sie uns einen Paradigmenwechsel zu?
Ja, wenn wir uns mit den Gedanken annehmen, dass unser Leben völlig anders wird. Wenn wir in der Geschichte zurückblicken, gab es immer schon Zeiten des Umbruchs, in denen sich die Gesellschaft tiefgreifend gewandelt hat. Im Zuge der Aufklärung etwa begann der Mensch, die Welt und sich selbst unter diametral entgegengesetzte Vorzeichen zu stellen und sich ganz neu zu begreifen. Solche Momente des Kulturwandels gibt es – und wir SIND Kultur. Dass wir zu solchen Dingen fähig sind, macht uns ja zu so einer spannenden Tierart auf dem Planeten. Derzeit leben wir noch in dieser seltsam ruhigen Phase, quasi den „Ferien der Geschichte“. Nun stehen wir an der Schwelle einer mit Sicherheit viel bewegteren Zeit.

Können wir dem Umbruch etwas Positives abgewinnen?
Selbstverständlich. Wir können uns bewusstmachen, dass wir sicherlich nicht die glücklichstmögliche aller Gesellschaften sind. Wir haben mehr Geld als je zuvor, aber wir schlucken auch mehr Antidepressiva als je zuvor. Ab einem gewissen Grundwohlstand – 30.000 bis 40.000 Euro pro Haushalt jährlich – wird unser Zufriedenheitsgefühl mit steigendem Wohlstand nicht mehr größer. Wir werden also nicht glücklicher, wenn wir immer mehr haben, wir bekommen nur andere Probleme.

Es kommt eine Zeit, in der kein Stein auf dem anderen bleibt. Wie gut wir künftig leben, liegt in unseren Händen.“

PHILIPP BLOM, AUTOR UND HISTORIKER

Wie kommen wir von der Depression zur Vision?
Wir könnten uns fragen: Was ist eine artgerechte Haltung des Homo sapiens? Was sind unsere wirklichen Grundbedürfnisse? Unter welchen Bedingungen fühlen wir uns als Gesellschaft zufrieden, glücklich, wenig aggressiv oder ängstlich? Stellen wir uns doch einmal die Welt vor, in der wir, unsere Kinder und Enkel 2050 leben wollen. Was wäre ein erfülltes Leben, wie würden eine gute Wirtschaft und Gesellschaft im Einklang mit der Natur funktionieren?

Skizzieren Sie mit uns eine Vision für unser Land?
Österreich könnte sagen: Im Jahr 2050 sind wir die technologischen Leader für Nachhaltigkeit in Europa. Wir stellen JETZT unsere gesamte Wirtschaft um – proaktiv, aus eigenem Entschluss und ohne, dass uns jemand die Pistole an die Schläfe hält. Dann sind WIR in 20 Jahren an erster Stelle und haben die Technologien und Expertise, die alle anderen brauchen. Österreich könnte sagen: Wir investieren JETZT massiv in diese Transition. Wir werden zu einem Zero-Carbon-Land – nicht nur auf dem Papier, sondern ganz real, nicht durch Emissionshandel, sondern durch technologische Veränderung und Innovation. Dadurch erarbeiten wir uns einen gigantischen Wettbewerbsvorteil.

Ein paar Worte, um unsere Risiko- und Veränderungsfreude zu stärken?
Wenn man die Studien und Zusammenhänge betrachtet und sieht, was das für die Zukunft bedeuten kann, schwirrt einem schon einmal der Kopf. Aber wenn wir den Blickwinkel ändern, sehen wir, dass in unseren Gesellschaften eigentlich alle technologischen, wissenschaftlichen und intellektuellen Voraussetzungen dafür herrschen, die Herausforderung anzugehen und ins Positive zu wenden. Es muss ein globaler Wille dazu entstehen.

Ihr Schlusswort?
Es kommt eine Zeit, in der kein Stein auf dem anderen bleibt. Wie gut wir künftig leben, liegt in unseren Händen.

Foto: WWW.PETERRIGAUD.COM

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