Spirit of Styria

ESG – neue Risiken oder NACHHALTIGE CHANCE?

EU-Green-Deal, Taxonomie-Verordnung, neue Nachhaltigkeitsberichtspflichten und Lieferketten-Gesetze – das Themenfeld ESG (Environmental, Social and Governance) beschäftigt zunehmend Unternehmen aller Branchen. Welche Herausforderungen ergeben sich aus ESG- bzw. Nachhaltigkeitsthemen für Unternehmen, Versicherungswirtschaft und den Wirtschaftsstandort? Experten und Unternehmensvertreter diskutieren bei uns am SPIRIT-Roundtable.

Angeregte Diskussion über „ESG“ in den Räumlichkeiten von „SPIRIT
of Styria“ mit Herausgeber Siegmund Birnstingl und CR Wolfgang Schober
TALK AM RING 
ist ein Diskussionsformat
von SPIRIT of Styria. Jeden Monat laden
wir Expertinnen und Experten zur Diskussion über ein spannendes Wirtschaftsthema an den Runden Tisch in die Redaktion am Grazer Opernring. 

ESG – ist das neue Regelwerk mehr Chance oder Risiko?
REPOLUST: Aus meiner Sicht überwiegen die Chancen. Ich bin Vater zweier Kinder mit sechs und zehn Jahren. Für mich Grund genug, alle Regelungen zu begrüßen, die dazu beitragen, dass wir den CO2-Ausstoß so weit wie möglich reduzieren, um den nächsten Generationen ein gutes Leben zu ermöglichen. Daher sollten wir bei ESG vor allem die Chance erkennen, die Wirtschaft in die notwendige Richtung zu lenken. Gleichzeitig wollen wir von GrECo als führender Spezialist für das Risikomanagement die Risiken unserer Klienten verstehen und bewerten – die aktuellen und auch die künftigen. Und viele der heutigen Risiken werden sich stark ändern, ganz klar – zu unseren Klienten zählen beispielsweise Stahlproduzenten sowie Ziegel- und Glashersteller. Wenn diese ihre Energiequellen für die Schmelzöfen sukzessive auf erneuerbare Energie umstellen, werden sich auch ihre Risiken verändern. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Versicherungsunternehmen, die durch ESG angehalten sind, ihr Portfolio möglichst grün zu halten. In diesem Bogen bewegen wir uns.

OBERHUMER: Mit dem Regelwerk kommt natürlich ein intensives Beratungsfeld auf uns zu. Das Thema hat eine Komplexität, die schwer zu überblicken ist. Unternehmen sind damit in vielen Bereichen überfordert. Daher braucht es professionelle Begleitung. Bei ESG geht es um nicht weniger als die grüne Transformation. Daher sehe auch ich den Wandel primär als Chance für unsere Unternehmen und für Europa. Gleichzeitig birgt diese Vorreiterrolle, die wir damit im weltweiten Maßstab einnehmen, auch ein gewisses Risiko für unseren Standort. Denn für uns in Europa wird ESG viel Bürokratie verursachen und damit Kosten. Und es wird personelle Ressourcen brauchen, die es am Markt derzeit noch nicht ausreichend gibt.

MITTERMAYR: Oft wird bei dem Thema nur über CO2 gesprochen und weniger über die S-Komponente in ESG, die ja den größten Aufwand für die Berichterstattung darstellt – vor allem, was die Lieferketten betrifft. Es geht bei ESG nicht nur um ökologische Nachhaltigkeit, sondern auch um ethisch nachhaltiges Handeln ohne Diskriminierung von Menschen. Grundsätzlich ist die Abfallwirtschaft eine sehr interessante Branche, was ESG betrifft. In Österreich gibt es rund 400 Abfallwirtschaftsunternehmen und nur ungefähr sieben oder acht werden aufgrund ihrer Größe dem gesamten ESG-Regelwerk unterliegen. Das ist insofern spannend, da Abfall ja Teil der Lieferkette ist, nur eben „nach hinten raus“, also am anderen Ende der Wertschöpfungskette. Ähnlich wie bei den Lieferanten am Beginn der Lieferkette müssen Unternehmen auch bei den Abnehmern des Abfalls dafür Sorge tragen, dass alle rechtlichen Standards eingehalten werden. Das heißt, ein Unternehmen, das Abfall produziert, ist auch dafür verantwortlich, was mit diesem Abfall letztendlich passiert. Wir selbst sind für das Jahr 2025 berichtspflichtig. Damit gehört Saubermacher zu rund 2.000 Unternehmen, die in Österreich betroffen sein werden – etwa 350 in der Steiermark. Das Spannende: 98 Prozent aller Marktteilnehmer in Österreich am Abfallmarkt unterliegen dem neuen Regelwerk aufgrund ihrer zu geringen Größe zwar nicht direkt, müssen aber trotzdem den großen Unternehmen, für die sie tätig sind, die erforderlichen Berichte liefern. Daher sehe ich hier eine große Chance für uns. Wir könnten kleineren Unternehmen künftig eine Plattform bieten, die sie bei ESG-Konformität unterstützt.

DIE TEILNEHMER

Martin Graf
Vorstandsdirektor
Energie Steiermark

Ralf Mittermayr
CEO Saubermacher

Christian Oberhumer
Partner LeitnerLeitner

Christoph Repolust
Vorstand GrECo International AG

Paul Swoboda
Vorstandsdirektor GRAWE

Selbstverständlich wurden auch weibliche Teilnehmer angefragt – leider erfolglos.
Die Reihung erfolgt alphabetisch.

SWOBODA: Die GRAWE ist – als Unternehmen des öffentlichen Interesses – schon in der ersten Welle dabei, also bereits für dieses Jahr berichtspflichtig. Ob Chance oder Risiko – ich sehe es grundsätzlich als unsere Verantwortung, Nachhaltigkeit zu leben. Daran führt kein Weg vorbei, wenn wir unseren Kindern eine lebenswerte Welt übergeben wollen. Zudem bietet ESG gute Chancen, sich damit von anderen Markteilnehmern zu differenzieren. Gleichzeitig sehe ich durch die Komplexität des Themas auch Risiken. So halte ich gewisse Definitionen im Bereich der Taxonomie für widersprüchlich. Nehmen wir als Beispiel unseren Besitz an Altstadtimmobilien in Graz und Wien. Diese würden nur dann taxonomiekonform bewertet werden, wenn sie die Energieeffizienzklasse A aufweisen. Aber das ist bei einem Altbau de facto oft nicht oder nur sehr schwer möglich. Es kann nicht im Sinn der EU-Richtlinie sein, dass wir die Innenstadt in Graz und Wien niederreißen und neu aufbauen. Das wäre wohl kaum nachhaltig.

GRAF: Für die Energie Steiermark ist Nachhaltigkeit seit Jahren ein ganz zentrales Thema. Wir bekennen uns zu den Grundsätzen des European Green Deal, also der Transformation in ein nachhaltiges Wirtschafts- und Energiesystem. Dafür setzt ESG klare Richtlinien für die Berichterstattung. Vielfach waren Nachhaltigkeitsberichte in der Vergangenheit ja bloß in schöner Prosa verfasste Marketinginstrumente. Das ändert sich jetzt – künftig zählen Zahlen und Fakten. Dafür braucht es Strukturen, IT-Systeme, Know-how und schließlich auch die Wirtschaftsprüfer, die die Ergebnisse testieren. Für die Energie Steiermark sehe ich das positiv. Wir verfassen seit 2016 sehr ambitionierte Nachhaltigkeitsberichte und werden von internationalen Nachhaltigkeits-Ratings wie GRESB bewertet. Damit haben wir das anspruchsvolle Thema der Datenaufbereitung schon sehr früh begonnen. Eine wichtige Message: Wer frühzeitig damit beginnt, effiziente Prozesse und eine ordentliche Berichterstattung zu implementieren, ist klar im Vorteil. Die Energie Steiermark war in Europa übrigens das zweite Unternehmen, das mit der Europäischen Investitionsbank einen Green Loan abgeschlossen hat. Und wir haben eine klare Klimaneutralitätsstrategie 2040. Diese haben wir auf konkrete Fragen heruntergebrochen: Was bedeutet eine grüne Strategie für bestimmte Geschäftsbereiche? Wo fallen Ergebnisse weg? In welchem Bereich sind künftig andere, neue Qualifikationen gefragt? Etc. Das ist praktische Nachhaltigkeit. Diese muss am Ende des Tages auch einen ökonomischen Vorteil bringen. Ebenso wichtig: Junge Menschen wollen heute bei Unternehmen arbeiten, die nachhaltig sind – und zwar authentisch nachhaltig. Wir haben eine hundertjährige Unternehmensgeschichte, in der Nachhaltigkeit tagtäglich gelebt wird – mit einem aktuellem Geschäftsmodell, wo man viel Positives beitragen kann. Wir sorgen für eine Infrastruktur, die eine Energieversorgung garantiert, die sicher, leistbar und ökologisch ist – für Haushalte und Industrie.

Österreich neigt zum Golden Plating. Belastet ESG den Standort und die internationale Konkurrenzfähigkeit?
OBERHUMER: Zukünftig wird die CSRD (Anm: Corporate Sustainability Reporting Directive, also die Richtlinie zur unternehmerischen Nachhaltigkeitsberichterstattung) unter gewissen Aspekten auch Drittstaatenunternehmen zum ESG-Reporting verpflichten. So sind in einem Konzern auch etwaige ausländische Tochterunternehmen zu berücksichtigen. Daher hoffe ich, dass die Einhaltung auch konsequent kontrolliert wird. Aus der Praxis weiß ich, dass beispielsweise Vertreter von US-amerikanischen Töchtern derzeit noch dazu neigen, das Th ema zu ignorieren, im Glauben das beträfe sie ohnehin nicht. Das wird sicherlich spannend. Wir brauchen eine konsequente Umsetzung. Andernfalls würde uns tatsächlich ein Wettbewerbsnachteil entstehen. Meine Hoffnung ist, dass uns andere Länder nachfolgen und Europa tatsächlich eine Vorreiterrolle einnehmen kann.

GRAF: Was die Wettbewerbsfähigkeit betrifft, sind Energiepreise natürlich eine Riesenherausforderung für die Industrie – wenn man sich im Vergleich etwa die USA ansieht. Dennoch: Vergleicht man den Inflation Reduction Act mit dem europäischen Green Deal, dann braucht sich der Green Deal überhaupt nicht zu verstecken. Die Amerikaner haben ihren nur besser verkauft. Zudem glaube ich, dass wir in der Diskussion mehr Ehrlichkeit brauchen. Wenn wir sagen, wir wollen die Energiewende schaffen, dann muss man immer dazu sagen, dass sie auch etwas kosten wird – aber sie ist alternativlos. Zu dieser Ehrlichkeit gehört auch, dass schon heute absehbar ist, dass wir im Winter künftig Deckungslücken haben werden, weil nach und nach fossile Kraftwerke vom Netz gehen. Daher müssen wir uns überlegen, wie wir das kompensieren werden. Nicht alles wird in der Übergangsphase ohne Fossile schaffbar sein. Und wir brauchen weniger Ideologie und dafür mehr Umsetzung in den Projekten! Daher investiert die Energie Steiermark in den kommenden Jahren über drei Milliarden in Erneuerbare Energie und den Ausbau der Netze. Die Dauer der Genehmigungsverfahren ist dabei sicher einer der großen Hemmschuhe. Aber ich glaube, dass die Dringlichkeit des Themas in der Politik bereits angekommen ist. Eine große Herausforderung wird dabei die Demografie. Es gehen viele Experten mit viel Erfahrung in Pension. Und wir brauchen in Wahrheit nicht weniger Ansprechpartner, sondern mehr, da wir viel mehr Projekte haben als in der Vergangenheit.

MITTERMAYR: Eine Sorge, die wir teilen. Gerade auch in unserem Bereich gibt es einen Rückstau bei Genehmigungsverfahren – es braucht mehr Fachkräfte in den Behörden. Oder einfachere Verfahren.

Wie groß ist das Bewusstsein in der Unternehmerschaft über ESG aktuell?
REPOLUST: Wir haben dazu unlängst eine Klientenumfrage unter rund 200 Unternehmen gemacht. Grundtenor: Das Thema ist zwar grundsätzlich angekommen, aber die Verunsicherung ist noch sehr groß. So gab jedes fünfte Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten an, die ESG-Risiken in der Lieferkette nicht zu kennen und Aspekte wie Korruptionsindex oder Achtung der Menschenrechte auch nicht zu bewerten. Und wir wissen aus der Befragung, dass sich rund 80 % aller Befragten durch die Investitionen, die sie tätigen werden, auch Vorteile erwarten – etwa vergünstigte Versicherungsprämien. Man erwartet sich, dass sich die Investitionen auch lohnen.

OBERHUMER: Bei den Unternehmen, die ab 2025 berichtspflichtig werden – also große Kapitalgesellschaften – sehen wir einerseits Firmen, die das Thema sehr aktiv angehen und als Chance sehen, aber auch jene, die angeben, nicht mehr als die Mindeststandards erfüllen zu wollen, bis hin zu Betrieben, die das Thema noch verdrängen. Allerdings hat sich dieses Mindset im zweiten Halbjahr 2023 deutlich gewandelt – und das Thema wird nun ernster genommen. D.h. den Unternehmen wird zunehmend bewusst, dass es entscheidend ist, sich gut vorzubereiten. Denn es braucht ausreichend Vorlaufzeit, um die erforderlichen Strukturen zu schaffen.

REPOLUST: Bislang entstanden Nachhaltigkeitsberichte ja eher aus der Vogelperspektive, das wird nun nicht mehr ausreichen. Künftig muss man tiefer hineingehen und seine Prozesse und Projekte mit Zahlen und Fakten belegen, anstatt an der Oberfläche zu bleiben.

OBERHUMER: Es gibt auch viele Unternehmen, die größenbedingt nicht unter die Richtlinien fallen, die aber vielfach dennoch mittelbar betroffen sind, wenn sie etwa Teil der Lieferkette großer Konzerne sind. Wir hatten schon Fälle von heimischen KMU, die von den großen deutschen OEMs gesperrt wurden, weil sie nicht in der Lage waren, jene Daten zu liefern, die der Konzern für das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichten-Gesetz braucht. Daher müssen sich auch diese KMU darauf vorbereiten. Studien zeigen, dass rund 85 % der Mittelständler mehr oder weniger große Konzerne beliefern. Diese werden nicht umhinkommen, künftig Daten zu liefern. Daher arbeitet die EFRAG bereits an eigenen KMU-spezifischen Reportingstandards, die sich künftig freiwillig den ESG-Regeln – in einer vereinfachten Form – unterwerfen wollen.

MITTERMAYR: Das Thema der KMU ist mir ja persönlich ein Anliegen. Daher habe ich ehrenamtlich die Landeskoordination des RespACT-Netzwerkes in der Steiermark – neben meiner Saubermacher-Funktion – übernommen. Dieses Wirtschaftsnetzwerk setzt gerade einen Schwerpunkt auf ESG. Dort gibt es die Möglichkeit, sich niedrigschwellig mit anderen auszutauschen. Daher kann ich KMU dieses Netzwerk nur ans Herz legen.

REPOLUST: Weil wir gerade über das Risiko gesprochen haben, den Standort Österreich mit zu viel Bürokratie zu gefährden, würde ich gerne die umgekehrte Frage aufwerfen: Kann das Lieferkettengesetz nicht auch dazu beitragen, unsere Unternehmen bei der Absicherung heimischer Lieferanten vor Konkurrenz aus anderen Ländern oder Kontinenten zu schützen?

MITTERMAYR: Grundsätzlich gibt es mit dem „Carbon Border Adjustment Mechanism“ ein Instrument der EU-Klimapolitik, das ein Gleichgewicht zwischen Unternehmen innerhalb und außerhalb der EU herstellen und die Emissionen aus der Produktion von importieren Waren reduzieren soll. Aber entscheidend ist dabei, ob man diese Regeln auch durchsetzen kann. Denn die EU ist meistens sehr gut im Erlassen von Regeln, aber weniger gut im Exekutieren. Daher sehe ich die berechtigte Sorge, dass wir uns hier brav an die Regeln halten und andere außerhalb der EU liefern einfach weiter ohne diese Standards nach Europa. Entscheidend wird sein, dass wir alle immer wieder einfordern, dass die Gesetze wirklich exekutiert werden – ganz besonders auch in meiner Branche. Die größte CO2-Einsparungsmöglichkeit in unserer Branche betrifft die Logistik.

Allein unser Unternehmen hat 680 Lkws im Einsatz. Daher investieren wir in E-Mobilität und Wasserstoff sowie andere ökologische Antriebe wie HVO-Diesel. Zuletzt haben wir drei E-Lkws in unsere Flotte übernommen. Dabei ist mir Technologieoffenheit ganz wichtig. Die Politik soll Ziele vorgeben ja, aber den Weg der Zielerreichung sollte man der Wirtschaft überlassen. Alles andere behindert Innovation!

OBERHUMER: Das Ziel der EU ist ja die Schaffung völliger Transparenz bei der Frage: Wie nachhaltig agieren Unternehmen in ihren Wirtschaftstätigkeiten? Und diese Transparenz soll durch die Pflicht zur Berichterstattung sichergestellt werden. Das ist die Grundidee. Ob es gelingt, wissen wir noch nicht. Aber im Idealfall muss jedes Unternehmen vergleichbare Fakten und Daten liefern. Die entscheidende Frage wird sein, ob sich der Markt selbst reguliert, da man künftig etwa seinen Zulieferer danach auswählen kann, wie nachweislich nachhaltig er agiert. Oder sind es am Ende sogar die Konsumenten, die die Berichte lesen und die Wirtschaft in die gewünschte Richtung treiben?

SWOBODA: Ich bezweifle, dass der Endkonsument die Nachhaltigkeitsberichte, die wir schreiben, verstehen wird. Für die Bürger waren die narrativ beschreiben-den Berichte, die wir bis jetzt veröffentlicht haben, wesentlich verständlicher und zielführender. Das, was wir in Zukunft produzieren, können – zumindest in einer Anfangsphase – vermutlich nur die Nachhaltigkeitsabteilungen anderer Unternehmen verstehen und auswerten. Vielleicht noch der eine oder andere Journalist, aber der Konsument eher schwer.

OBERHUMER: Ich gebe Ihnen recht. Aber auf all das wird vielleicht nicht mehr unsere Generation reagieren, sondern womöglich die folgende. Ich habe selbst drei Kinder und sehe, wie anders diese bereits mit vielen für uns selbstverständlichen Themen umgehen. Bei vielen Dingen ticken sie ganz anders als wir.

MITTERMAYR: Der Druck wird steigen, vor allem auch von NGOs. Erst unlängst wurden wieder zwei bekannte heimische Unternehmen des Greenwashings überführt. Künftig werden NGOs sicherlich noch strenger auf Behauptungen wie „Wir sind klimaneutral“ schauen, damit haben wir eine zusätzliche kontrollierende Instanz – mit allen positiven, aber wohl auch negativen Auswirkungen.

GRAF: Transparenz und Nachweisbarkeit sind kein Selbstzweck. Wir brauchen sie, um faire Spielregeln am Markt sicherstellen. Durch die neuen Regeln kommen wir, wie erwähnt, weg von der Prosa-Erzählung bei Nachhaltigkeit hin zu belastbaren Fakten. Das wird helfen zu unterscheiden. Gerade als Finanzvorstand sehe ich dabei natürlich auch den hohen Investitionsbedarf. Gleichzeitig gibt es immer mehr Investoren, die Investitionsmöglichkeiten im Bereich Transformation von Energiesystemen suchen. Das ist wichtig, weil wir die hohen Investitionen über den klassischen Kreditmarkt allein nicht stemmen können. Diese Investoren werden sich genau überlegen, wo sie investieren – grüne und nachhaltige Unternehmen werden sich leichter tun und einen ökonomischen Vorteil haben. Wer sich taxonomie-konform bzw. CSRD-konform verhält, wird in Zukunft eine günstigere Finanzierung bekommen. Versicherungen, Pensionskassen etc. drängen immer mehr in diesen Bereich. Eigene ESG-Ratings werden dabei in Zukunft eine wichtige Rolle spielen – ähnlich den Ratings heute im Finanzbereich. Und diese nicht-finanziellen Ratings werden finanzielle Auswirkungen haben. Daher ist man als Unternehmer oder Vorstand gefordert, in beiden Bereichen das Beste für sein Unternehmen zu erreichen.

SWOBODA: Bei den Kapitalanlagen liegt sicherlich unser größter Hebel. Wir schätzen, dass 95 Prozent des CO2-Ausstoßes, für den wir verantwortlich sind, aus der „Lieferkette“ stammt – d.h. fast ausschließlich aus dem Investmentbereich bzw. unseren Kapitalanlagen. Kapitalanlagen umstrukturieren ist damit der größte Hebel, den wir derzeit haben. Daher gibt es auch die Green Finance-Initiative der EU, um Kapitalanlagen Schritt für Schritt grün zu machen.

REPOLUST: Welche Auswirkungen es haben kann, wenn das Thema Nachhaltigkeit nicht ausreichend im Geschäftsmodell und der Strategie verankert ist, veranschaulicht folgender Fall aus der Praxis: Ein deutscher Versicherer hat einem großen österreichischen Unternehmen die D&O, also die Managerhaftpflichtversicherung, gekündigt, weil in dessen Nachhaltigkeitsbericht die Dekarbonisierungs- und Transformationsstrategie nicht klar erkennbar war. Die Versicherung ist ausgestiegen – proaktiv, weil die ESG-Strategie des Klienten nicht ausreichend transparent und nachvollziehbar war. Daran sieht man, wohin die Reise geht.

GRAF: Umso mehr versuchen wir, uns auf die Chancen zu konzentrieren. Auch für die regionale Wertschöpfung, die durch unsere Investitionen ausgelöst wird. Jeder Euro, den wir ins Netz investieren, kommt zusätzlich als zweiter Euro in der regionalen Wirtschaft an – gerade in der konjunkturell angespannten Situation ein wichtiger Impuls. Unterm Strich stellen unsere Investitionen gemeinsam mit jenen der Industrie ein Riesen-Konjunkturpaket dar. Allein wir investieren jedes Jahr 200 Mio. Euro in den Netzausbau. Im Vorjahr haben wir knapp 15.000 neue Zählpunkte im PV-Bereich an unser Netz angeschlossen – doppelt so viel wie im Jahr davor. In Summe halten wir bei rund 42.000 Anschlüssen. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren die Anzahl der Anlagen, die in unser Netz einspeisen, verdoppelt. Das heißt, 330 Megawatt installierte Leistung sind allein 2023 ans Netz gegangen. Damit und mit dem weiteren Ausbau der Windenergie sind wir auf dem besten Weg, unsere Zielsetzung 100 Prozent Erneuerbare Energie bis zum Jahr 2030 zu erreichen.

Sind Unternehmen der Kreislauf- und Ressourcenwirtschaft – etwa Betriebe der Abfallwirtschaft – künftig leichter bzw. günstiger versicherbar?
SWOBODA: ESG heißt nicht unbedingt, dass es deswegen weniger Risiko gibt. Eine PV-Anlage am Dach beispielsweise reduziert das Risiko nicht, zudem erhöht sich der Wert des Hauses. Das alles ist für die Berechnung der Versicherungsprämie maßgeblich. Auch Batterie-Speicher bzw. die E-Tankstelle in der Garage sind nicht unbedingt risikoreduzierend, sondern können die Brandlast erhöhen. Ganz ähnlich die Abfallverwertungsanlagen, wo die steigende Anzahl an Batterien das Brandrisiko erhöht. Aber natürlich versuchen wir, ESG-konformes Verhalten möglichst nicht zu pönalisieren – das wäre ja kontraproduktiv. Wir sind hier mitten in einer Transformation, die noch länger dauern wird. Zudem gibt es auch andere Möglichkeiten, wie wir zum Thema ESG beitragen können. So denken wir darüber nach, wie wir im Schadensbereich künftig verstärkt in Richtung „Reparatur statt Neu“ gehen können.

REPOLUST: E-Mobilität ist ein gutes Stichwort. Ich fahre selbst seit zwei Jahren ein Elektroauto und habe bereits 70.000 Kilometer absolviert. Wie auch immer man zum Nutzen von E-Autos stehen mag, mir scheint es plausibel, dass die Vorteile überwiegen. Mein Eindruck ist aber, dass die Versicherungswirtschaft keine so große Freude damit hat – bedingt durch Sorgen wegen der Brandgefahr oder potenziell höherer Reparaturkosten bei bestimmten Marken.

SWOBODA: Wir in der Versicherungswirtschaft sind, salopp gesagt, Statistik-Freaks. Und bei allem, was neu kommt und wo wir noch zu wenige Daten haben, tun wir uns schwer mit Schadenhistorien und Wahrscheinlichkeiten – das ist sicher auch bei der E-Mobilität noch eine Herausforderung.

MITTERMAYR: Ich würde aber nicht behaupten, dass die Abfallwirtschaft automatisch eine nachhaltige Branche ist. Das hängt immer vom jeweiligen Unternehmen ab. Selbst für uns bleibt das eine Herausforderung, da wir relativ viele Fahrzeuge betreiben. Der größte Teil unseres eigenen CO2-Footprints kommt aus dem Bereich Logistik und Transport. Daher stellen wir bestmöglich auf nachhaltige Fahrzeuge um – inklusive des Risikos, noch unerprobte Technologien einzusetzen. Denn es gibt Kunden, denen das wichtig ist. In der Regel geht Abfall aber meist den Weg des geringsten Geldes – unter Einhaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Saubermacher investiert oft mehr als gefordert, um einen höheren Standard zu erreichen, und hat Gott sei Dank auch Kunden, die das zu schätzen wissen.

REPOLUST: Auch im Immobilienbereich setzen viele auf ökologische Materialen wie Holz und investieren auf diese Weise in Nachhaltigkeit. Dafür gibt es die Zertifizierungsstelle ÖGNI in Wien, die Objekte und Gebäude entsprechend der Nachhaltigkeitsstandards zertifiziert. Derzeit arbeiten wir gerade mit Partnern an einem neuen Produkt für den Immobilienmarkt. Darin soll Nachhaltigkeit bei Gebäuden und Objekten künftig belohnt werden. D.h. wer eine Zertifizierung erhält, darf sich über eine günstigere Prämie freuen.

Wer im Unternehmen ist für die Umsetzung der ESG-Regeln verantwortlich?
OBERHUMER: Eine sehr berechtigte Frage: Das Thema wird bei vielen Unternehmen mit einer hohen Selbstverständlichkeit oft beim CFO bzw. im Finanzbereich angesiedelt. Das halte ich aber für zu kurz gegriffen. Denn Nachhaltigkeit betrifft nahezu jede Abteilung im Unternehmen, daher kann man das Thema meines Erachtens gar nicht hoch genug aufhängen. Ich bin zudem überzeugt, dass der Vorstand bzw. die Geschäftsführung voll dahinterstehen muss. Nur dann wird es funktionieren. Die Schaffung von interdisziplinären Fachbereichen unter dem Dach des Vorstands bzw. der Geschäftsführung kann dabei ein Schlüssel zum Erfolg sein.

Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Versicherungswirtschaft?
REPOLUST: Wir nützen ein Klimatool der Schweizer Rückversicherung, mit dem wir die Standorte unserer Klienten nach ihrem Gefährdungsgrad durch verschiedene Klimarisiken wie beispielsweise Hochwasser, Hitze, Waldbrände, Trockenheit etc. bewerten können. So können wir beispielsweise für ein großes Einzelhandelsunternehmen in Österreich für jeden einzelnen Standort präzise voraussagen, wie sicher dieser Standort in den nächsten Jahrzehnten in Bezug auf Klimarisiken sein wird. Darauf kann das Unternehmen dann rechtzeitig reagieren.

SWOBODA: Der Klimawandel ist für uns Versicherer sicher eine der größten Herausforderungen. Wir haben steigende Schadensfrequenzen bei Sturm, Hagel und Hochwasser. Daher wird das Thema auch immer mehr in die Prämienbemessung einfließen – je nachdem, welchem Risiko man durch seine topographische Lage ausgesetzt ist. Es sei denn, wir schaffen eine Lösung auf Gesellschaftsebene – also eine Pflichtversicherung. Dafür gibt es gute Bei-spiele in anderen europäischen Ländern. Dadurch schaffen wir eine einheitliche und leistbare Prämie für jeden. Auch wir verwenden die Tools der Rückversicherung, ebenso das österreichische HORA. Damit können wir sehr gut darlegen, wie sich etwa ein 50-jähriges Hochwasser auf einzelne Grundstücke auswirkt und welche baulichen Maßnahmen es gegebenenfalls braucht.

REPOLUST: Das sind ganz wichtige Maßnahmen, damit die Schere der Unversicherbarkeit nicht weiter aufgeht. Denn die Risiken werden zunehmen – auch für die Rückversicherungen. Das verstehen wir gut, daher wollen wir hier auch unterstützen.

MITTERMAYR: Eine Nebenwirkung von Hochwasser-Ereignissen ist die Kontaminierung der Böden durch Öltanks. Diese Böden müssen dann dementsprechend behandelt werden – so wie zuletzt in Slowenien, wo wir massiv im Einsatz waren. Wir haben zusätzliche Kapazitäten geschaffen, um kontaminierte Böden zu behandeln und investieren auch stark in den Bereich Kanalspülen bzw. Kanalsanierung. Bei den Folgen des Klimawandels müssen wir immer eines bedenken: Ein 1,5-Grad-Ziel für den Globus bedeutet ein 3-Grad-Ziel für Österreich. Und ein 2-Grad-Ziel ist ein 5-Grad-Ziel hierzulande. Das eine ist der Weltdurchschnitt und das andere der Alpenraum, einer der am stärksten betroffenen Regionen des Klimawandels. Daher haben wir allen Grund, bei Ökologie und Nachhaltigkeit vorbildlich zu sein.

GRAF: Was oft vergessen wird: Klimawandel geht einher mit einem Riesen-Migrations-Thema. Wenn Hunderte Millionen Menschen nicht mehr in ihrer Heimat leben können, weil die Regionen schlicht unbewohnbar werden, werden sie gezwungen sein, sich auf den Weg zu machen. Es ist also in unserem Interesse, es nicht so weit kommen zu lassen. Wer, wenn nicht wir, haben dafür das Know-how und die Kompetenzen? Siehe unseren boomenden Green-Tech-Cluster mit seinen globalen Technologieführern. Wir haben die Mittel und die Möglichkeiten, Vorreiter für viele andere Regionen der Welt zu sein. Damit können wir zeigen, dass man in Zukunft auch anders wirtschaften kann. Diese Chance sollten wir mit aller Kraft wahrnehmen.

Fotos: Oliver Wolf, iStock

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